Lexikon


Grass, Günter

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* 16. 10. 1927 in Danzig (heute Gdañsk, Polen)

Ähnlich wie sein „Lehrer“ Döblin wurde Grass lange Zeit mit einem seiner Bücher identifiziert und attackiert: Als Autor der Blechtrommel zog er sich den Vorwurf der Blasphemie und Pornografie zu, Grund genug für den Bremer Senat, 1960 den von einer unabhängigen Jury Grass zugesprochenen Bremer Literaturpreis zu widerrufen; 1965 zählte Bundeskanzler Erhard ihn zu den „Pinschern“ und verbrannten Jugendliche in Düsseldorf Grass-Werke. Oft genug diente die „moralische“ Entrüstung dazu, den Wahlhelfer der SPD zu diskreditieren. Als Grass nach Böll (1972) als zweiter Schriftsteller der B. D. 1999 den Nobelpreis erhielt, bezog sich die Begründung ausdrücklich auf die vor genau 40 Jahren erschienene Blechtrommel; dieser zeitgeschichtliche Roman werde, so prognostizierte die Schwed. Akademie in Stockholm, das zu Ende gehende Jahrhundert überdauern.
Der Sohn dt.-poln. Eltern besuchte in Danzig das Gymnasium und wurde 1944 zum Arbeitsdienst, dann zum Kriegsdienst eingezogen. 1945 verwundet, geriet er in Bayern in amerikan. Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 entlassen wurde. Im Rheinland war er als Landarbeiter und im Bergbau tätig. 1947 machte er in Düsseldorf eine Steinmetz- und Bildhauerlehre, anschließend studierte er an der Düsseldorfer, ab 1953 an der Westberliner Kunstakademie Malerei, Grafik und Bildhauerei (Schüler von Karl Hartung). 1955 wurde er Mitglied der „Gruppe 47“, deren Preis er 1958 nach Lesung aus dem noch unvollendeten Roman Die Blechtrommel (V 1959) erhielt. 1956–59 lebte er als freier Künstler und Schriftsteller in Paris, 1960 ließ er sich in West-Berlin nieder (Zusammenarbeit mit Johnson im Kampf gegen „Uniformität“ der Presse). Ab 1961 unterstützte er die SPD in Bundes- und Landtagswahlkämpfen. Eine Eintragung in Aus dem Tagebuch einer Schnecke (1972) lautet: „Ich bin Sozialdemokrat, weil mir der Sozialismus ohne Demokratie nichts gilt und weil eine unsoziale Demokratie keine Demokratie ist.“ Ab 1976 gab er mit Böll und Carola Stern die Zeitschrift „L 76. Demokratie und Sozialismus“ heraus.
Zu seinen Auszeichnungen in den 1960er Jahren gehören der Georg-Büchner-Preis des Jahres 1965 und die 1968 verliehene Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte. Sein kulturpolitisches Engagement galt u. a. dem Kontakt zwischen den Schriftstellern der beiden dt. Staaten. Ein Kernsatz der Erzählung Das Treffen in Teltge (1979) lautet: „Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben.“ Als Beispiel dient hier eine fiktive Zusammenkunft von Schriftstellern aus der Epoche des Barock, u. a. Gerhardt, Grimmelshausen, Gryphius) im Jahr 1647 – 300 Jahre vor der Gründung der „Gruppe 47“. Einer ersten Reise nach Indien 1975 folgten 1986/87 Aufenthalte in Vororten von Kalkutta; das Tagebuch Zunge zeigen (1987) handelt von der westlichen Mitschuld am Elend auf diesem Subkontinent.
Im Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung und Anerkennung steht der Erzähler und Essayist Grass. Sein Gesamtwerk umfasst jedoch ebenso das Drama (mit Anfängen unter dem Einfluss des absurden Theaters) und eine dem grafischen Schaffen vielfach verwandte bildhafte, aber auch reflektierende Lyrik. Grafische Gestaltungen begleiten die Entstehung der Erzählwerke; so sind Butt und Rättin Figuren des literarischen wie des bildnerischen Schaffens. Seinen Rang als Doppelbegabung bestätigte Grass als Illustrator (Aquarelle) seines Prosawerks Mein Jahrhundert (1999). Jedem der 100 Jahre ist eine Erzählung aus der Perspektive jeweils unterschiedlicher, zumeist fiktiver Zeitzeugen gewidmet, etwa eines konservativen Journalisten, der über Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau, ein Symbol der dt.-poln. Aussöhnung, berichtet. Hier wird in satirischer Einkleidung (der Journalist weiß, dass seine „Chefetage diesen Kniefallkanzler lieber heut als morgen weg hätte“) der autobiografische Anteil deutlich. 1993 wurde Grass Ehrenbürger seiner Heimatstadt Danzig/Gdansk.
In seinem autobiografisch gefärbten Buch Beim Häuten der Zwiebel (2006) spricht Grass unter anderem auch über seine – Grass war damals 17 Jahre alt – Mitgliedschaft bei der Waffen-SS. Das Buch löste eine große öffentliche Debatte über den Umgang mit der Geschichte im Allgemeinen und mit der eigenen Geschichte im Speziellen aus.
2007 wurde ihm der Ernst-Toller-Preis zugesprochen.

Gedichtbände: Die Vorzüge der Windhühner (1956), Gleisdreieck (1960), Ausgefragt. Gedichte und Zeichnungen (1967), Die Schweinekopfsülze (1969), Gesammelte Gedichte (1971), Letzte Tänze. Gedichte und Bilder (2003), Lyrische Beute (2004), Dummer August (2007). – Erzählendes Werk: Danziger Trilogie: Die Blechtrommel (1959), Katz und Maus (1961), Hundejahre (1963); Örtlich betäubt (1969, als Drama u. d. T. Davor, U 1969), Geschichten (u. d. Pseudonym Artur Knoff, 1968), Aus dem Tagebuch einer Schnecke (1972), Liebe geprüft. 7 Geschichten und 7 Radierungen (1974), Der Butt (1977), Das Treffen in Teltge (1979), Die Rättin (1986), Unkenrufe (1992), Ein weites Feld (1995), Mein Jahrhundert (1999), Im Krebsgang (2002), Beim Häuten der Zwiebel (2006), Die Box. Dunkelkammergeschichten (2008). – Dramen: Noch zehn Minuten bis Buffalo (E 1954, U 1959), Hochwasser (1957), Onkel, Onkel (1958), Die bösen Köche (E 1956, U 1961), Slg. Theaterspiele (1970). – Essays und andere Prosa: Dich singe ich, Demokratie. 5 Wahlreden (1965), Über das Selbstverständliche. Reden, Aufsätze, Offene Briefe, Kommentare (1968), Über meinen Lehrer Döblin und andere Vorträge (1968), Günter Grass – Pavel Kohout, Briefe über die Grenze (1968), Der Schriftsteller als Bürger – eine Siebenjahresbilanz (1973), Der Bürger und seine Stimme. Reden, Aufsätze, Kommentare (1974), Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus (1980), Rede vom Verlust. Über den Niedergang der politischen Kultur im geeinten Deutschland (1992), Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Reden vorm Glockengeläut (1993), Rede über den Standort (1997), Vom Abenteuer der Aufklärung. Werkstattgespräche mit Harro Zimmermann (1999), Günter Grass – Helen Wolff. Briefe 1959–1994 (2003), Hans Christian Andersens Märchen – gesehen von Günter Grass (2005), Uwe Johnson – Anna Grass – Günter Grass. Der Briefwechsel 1961–1984 (2007).


Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009

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