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Böll, Heinrich

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* 21. 12. 1917 in Köln
† 16. 7. 1985 in Hürtgenwald (Eifel)


Die Ehrung der Person und des Autors Böll durch die Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1972 schien auch die B. D. zu ehren. Doch hier war das Echo geteilt. Der Repräsentant einer gesellschaftskritisch engagierten und eben hierdurch humanen Literatur war in den Verdacht des „geistigen Sympathisantentums“ mit dem Terrorismus geraten.
Der Sohn eines Tischlers und Holzbildhauers legte 1937 in Köln das Abitur ab. In seinem Elternhaus fanden ab 1933 Zusammenkünfte verbotener kath. Jugendverbände statt. Nach einem Semester Studium der Germanistik und klassischen Philologie wurde Böll im Herbst 1939 zur Wehrmacht eingezogen. 1943/44 mehrfach in Russland und Rumänien verwundet, desertierte er 1944 und kehrte 1945 aus amerikan. und engl. Kriegsgefangenschaft nach Köln zurück. Er nahm sein Studium wieder auf und arbeitete in der Schreinerei seines Bruders; ab 1947 Veröffentlichungen in Zeitschriften. Dem ersten Buch Der Zug war pünktlich (1949) folgte 1951 der Preis der „Gruppe 47“ für die Satire Die schwarzen Schafe. Fortan lebte Böll als freischaffender Schriftsteller.
Der vom Ost-West-Konflikt begünstigten Restauration im Rahmen einer sich formierenden Wohlstandsgesellschaft setzte Böll 1952 sein Bekenntnis zur Trümmerliteratur entgegen. Sein Kampf galt dem Vertuschen der geschichtlichen Zusammenhänge ( Wanderer, kommst du nach Spa …) und der menschlichen Misere im Wirtschaftswunderland, galt dem Chauvinismus, Militarismus und Klerikalismus (1976 Austritt aus der kath. Kirche). Er unterstützte die außerparlamentarische Opposition, den Protest gegen Notstandsgesetzgebung (1968) und Extremistenbeschluss (1972), gegen die Aushöhlung des Rechtsstaats angesichts des Terrorismus („Spiegel“-Artikel Will Ulrike [Meinhof] Gnade oder freies Geleit?, 1972) und die atomare „Nachrüstung“ (1983 Beteiligung an einer Blockade des Raketenstützpunkts Mutlangen). In besonderem Maße setzte sich Böll für im Ostblock verfolgte Schriftsteller ein (UdSSR-Reisen 1962, 1966, 1972, Pragreise 1968); 1974 war der aus der UdSSR deportierte Alexander Solschenizyn zunächst Bölls Gast. Mit Günter Grass und Carola Stern gab er ab 1976 die Zeitschrift „L 76. Demokratie und Sozialismus“ heraus. 1969 beteiligte er sich an der Gründung des Verbands dt. Schriftsteller (Rede Das Ende der Bescheidenheit). 1971–74 war er Präsident des internationalen PEN-Clubs.
Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen gehören der Georg-Büchner-Preis des Jahres 1967 und die 1974 verliehene Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte.

Romane: Wo warst du, Adam? (1951), Und sagte kein einziges Wort (1953), Haus ohne Hüter (1954), Gruppenbild mit Dame (1971), posthum Frauen vor Flusslandschaft (1985, als Hörspiel 1986). – Erzählungen: Das Brot der frühen Jahre (1955), Slg. Doktor Murkes gesammeltes Schweigen (Satiren, 1958), Entfernung von der Truppe (1964), Ende einer Dienstfahrt (1966, Verf B. D. 1971 von Hans Dieter Schwarze), Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974, Verf B. D. 1975 Volker Schlöndorff), Berichte zur Gesinnungslage der Nation (Satire, 1975), Slg. Du fährst zu oft nach Heidelberg (1979). – Dramen: Ein Schluck Erde (1962), Aussatz (1970). – Hörspiele: Slg. Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze (1961), Hausfriedensbruch (1969). – Reisebücher: Irisches Tagebuch (1957). – Essays: Frankfurter Vorlesungen (1966), Slg. Querschnitte (1977).

Kurzgeschichten.
Durch seine frühen Erzählungen gehört Böll neben Borchert und Schnurre zu den Begründern der dt. Kurzgeschichte der Nachkriegszeit. An die Stelle der im traditionellen Sinne „unerhörten Begebenheit“ tritt die schmucklose, scheinbar distanzierte und ausschnitthafte Schilderung eines anscheinend banalen Vorfalls. Beispielhaft zeigt dies Die Postkarte. Der Ich-Erzähler erinnert sich an den Tag, an dem er kurz vor Beginn des II. Weltkriegs zu einer Wehrübung einberufen wurde. Die zwischen dem erinnerten Vorfall und der Gegenwart des sich Erinnerns liegenden Ereignisse bleiben ausgespart.
Die Titelgeschichte der Slg. Wanderer, kommst du nach Spa … (1950) verkürzt den Zeitraum zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf wenige Wochen. Ein Junge wird schwer verwundet auf einer Bahre durch die Gänge einer Schule, die nun als Lazarett dient, zum Operationssaal getragen. Mit der Abfolge der Ausstattungsstücke an den Wänden – Abgüsse antiker Skulpturen, Reproduktionen preuß. Herrscherbildnisse, einer Ansicht der ehemaligen Kolonie Togo, rassenkundlicher Lehrtafeln – wächst bei dem Jungen die Erkenntnis, dass der Schauplatz die eigene Schule ist, das huma­nistische Gymnasium „Friedrich der Große“. An einer Wandtafel sieht der Junge das Fragment der den Opfertod des Leonidas und seiner Spartaner bei den Thermopylen verklärenden Verse: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, / du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.“ Er selbst hatte diese Verse – als Schönschreibübung – an die Tafel geschrieben. Dieses Relikt aus dem Leben in der Schule wird zum Inbegriff eines mörderischen „Humanismus“, der Antike, Preußentum, Imperialismus und Rassenlehre in Einklang gebracht hat. Kennzeichnend für die Gestaltungsweise ist die nüchterne Sprache, mit der aus der Sicht des Jungen die Gegenstände in diesem „Museum einer Totenstadt“ registriert werden.

Satiren. Neben der sachlich kühlen, in der Beschreibung von Personen und Gegenständen knappen Kurzgeschichte entwickelte Böll eine Form der Satire mit grotesker Ausgestaltung des Details. Eine Mittelstellung besitzen kurze Texte wie Es wird etwas geschehen (1954). Er karikiert den total verinnerlichten Leistungszwang; durch die Beisetzung seines dem Managertod erlegenen Arbeitgebers findet der Ich-Erzähler seinen Beruf als bezahlter Beerdigungsteilnehmer, einen „Beruf, bei dem (…) Nichtstun meine Pflicht war“.
Nicht nur zur Weihnachtszeit (1952) schildert den Zerfall einer gutbürgerlichen Familie, deren weibliches Oberhaupt nach dem Verzicht auf die bisherige Ausstattung des Weihnachtsbaums während der Kriegsjahre beim ersten Nachkriegs-Weihnachtsfest dem Wahn zum Opfer fällt, von nun an sei allabendlich Hl. Abend. Nur die unablässige Wiederholung der schließlich von Schauspielern und mit Hilfe von Wachspuppen als Enkelersatz durchgeführten Zeremonie verhindert den Ausbruch der Hysterie. In der fixen Idee konzentriert sich der zwanghafte Wunsch nach Rückkehr zur „Normalität“ der Vorkriegszeit.
Dr. Murkes gesammeltes Schweigen (1958) prangert am Beispiel des Betriebs in einer Rundfunkanstalt die Oberflächlichkeit des kulturellen Neubeginns an. Redakteur Murke hat die Aufgabe, die Korrektur zweier auf Band gesprochener Vorträge des Kulturphilosophen Bur-Malottke zu leiten. Statt „Gott“ muss jeweils „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ eingefügt werden, eine Formulierung, die „mehr der Mentalität entsprach“, zu der sich Bur-Malottke „vor 1945 bekannt hatte“. Die Tonbandschnipsel mit „Gott“ finden sofort in einem Hörspiel Ver­wendung, in dem zu oft „Schweigen“ herrscht; diese Schnipsel wiederum gelangen in Murkes Besitz, der mehr als jeder andere an der ringsum dominierenden Geschwätzigkeit leidet und an einem Tonband arbeitet, das ausschließlich aus „beschwiegenen“ Bandteilen besteht.

Billard um halbzehn. Roman, V 1959, Verf B. D. 1965.
Im Rahmen der Ereignisse eines einzigen Tages entwickelt sich ein historischer Längsschnitt durch den Zeitraum dt. Geschichte von 1907 bis 1958, vom Wilhelminischen Kaiserreich bis zur Gegenwart des „Wirtschaftswunders“ in der B. D.
Als Leitfaden dient die Geschichte dreier Generationen einer rhein. Architekten­familie und deren Beziehung zur Abtei St. Anton, die von der ersten Generation erbaut, von der zweiten bei Kriegsende zerstört wurde und von der dritten neu errichtet wird. Träger der „Handlung“ in Form des inneren Monologs und Dialogs sind der Architekt Fähmel und sein Sohn Robert. Als Leitmotive, auf deren Gegensatz Böll die historische Entwicklung reduziert, dienen das „Sakrament des Büffels“, Sinnbild für neugermanisches Heidentum, Nationalismus und kollektive Gewalt, und das „Sakrament des Lammes“, Sinnbild einer christlich geprägten, zum Widerstand fähigen Lebenshaltung.
In weltanschaulicher Hinsicht steht der Roman im Zusammenhang mit Bölls Auseinandersetzung mit der politischen Verantwortung des Katholizismus, ausgehend etwa von dessen Hinnahme, ja der Befürwortung und kirchlichen Unterstützung der Wiederbewaffnung der B. D. Unmittelbar vor Erscheinen des Romans richtete er eine scharfe Attacke gegen die „Turnlehrertheologie“ und „Fast-Kongruenz von CDU und Kirche“, die „verhängnisvoll ist, weil sie den Tod der Theologie zur Folge haben kann“. Die in der Regel dann zitierten kath. Märtyrer, „wenn die Haltung der offiziellen kath. Kirche in Dtl. während der Nazizeit angezweifelt wird“, handelten „nicht auf kirchlichen Befehl, sondern ihre Instanz war eine andere, deren Namen auszusprechen heute schon wieder verdächtig geworden ist: das Gewissen“. Enthalten sind diese Sätze im Brief an einen jungen Katholiken. Er gehört zu den Beiträgen der Slg. Christ und Bürger heute und morgen (1959).

Ansichten eines Clowns. Roman, V 1963, Verf B. D. 1975 Voitech Josny.
Der Ich-Erzähler Hans Schnier, Sohn eines rhein. Braunkohlemillionärs und von Beruf Clown, ist finanziell, körperlich und seelisch am Ende. Nach einem Zusammenbruch auf offener Bühne ist er in seine Bonner Wohnung geflüchtet und versucht von hier aus, telefonisch mit seinen Angehörigen und Bekannten Kontakt aufzunehmen. Diese Gespräche sind Bestandteil einer umfassenden, Schniers Erinnerungen einbeziehenden Abrechnung mit einer durch Heuchelei und rücksichtsloses Machtstreben gekennzeichneten Umwelt; Schnier wird sich bewusst, dass er als Außenseiter in der „Gosse“ enden muss. Seine Mutter, die 1945 ihre einzige Tochter als Flakhelferin in den Kampf gegen die „jüd. Yankees“ und damit in den Tod geschickt hat, genießt Ansehen als Präsidentin des „Zentralkomitees der Gesellschaft zur Versöhnung rass. Gegensätze“.
Im Mittelpunkt der immer wieder aufflackernden Hoffnungen Schniers steht Marie. Die kath. Tochter eines Kommunisten hat ihn nach sechsjährigem Zusammenleben verlassen, um den einflussreichen Katholiken Züpfner zu heiraten und zur – wie Schnier voraussieht – „‚first lady‘ des dt. Katholizismus“ zu avancieren. Maries Anlass, sich von Schnier zu trennen, bildet dessen Weigerung, schriftlich die kath. Erziehung ihrer zukünftigen Kinder zu garantieren. Insofern ist der Ein­fluss, unter dem Marie gehandelt hat, Modell jeglicher Machtausübung, die das individuelle Glück des Einzelnen miss­achtet. Eine solche Macht besitzt, verkörpert durch Schniers Vater, das Geld – „nicht das konkrete, mit dem man Milch kauft und Taxi fährt, sich eine Geliebte hält und ins Kino geht“, sondern das „abstrakte“. Der Roman endet mit Schniers Selbsterniedrigung:
Er lässt sich – inmitten des Karnevalstreibens – als kostümierter Bettler auf der Bahnhofstreppe nieder, um Marie und Züpfner bei ihrer Rückkehr von der Hochzeitsreise nach Rom zu begegnen.

Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann. Erzählung, V 1974, B. D. 1975 Volker Schlöndorff.
In Form eines Berichtes, den Reflexionen des Erzählers über die Rekonstruktion von Ereignissen begleiten, entsteht ein knapper Handlungsablauf. Sein Anfang und Ende leiten die Erzählung ein: Die freiberuflich als Haushälterin tätige Katharina Blum hatte bei einem privaten Tanzabend zur Karnevalszeit Ludwig Götten kennen gelernt und die Nacht mit ihm verbracht; vier Tage später erschoss sie Werner Töttges, einen Reporter des Boulevardblatts ZEITUNG. Die Verbindung zwischen diesen beiden Ereignissen erweist sich darin, dass Katharina Blum von der Polizei verdächtigt wurde, Komplizin des „Banditen“ Götten zu sein, und die ZEITUNG diesen Verdacht zum Anlass nahm, die junge Frau nach allen Regeln der Skandalpresse an den Pranger zu stellen. „Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken“, betont die Vorbemerkung, „Ähnlichkeiten mit den Praktiken der ‚Bild‘-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“
Im Mittelpunkt des Erzählerinteresses steht (ähnlich wie im vorangegangenen Roman Gruppenbild mit Dame, 1971) die Empfindungsweise einer sensiblen Frau, die sich nach schwerer Kindheit und erniedrigender Ehe durch Fleiß und Korrektheit den Schutz ihrer Privatsphäre erarbeitet hat und dann unversehens zum Freiwild der öffentlichen Meinung wird.
Zu den Hauptgestalten gehört das Ehepaar Blorna, denen Katharina Blum den Haushalt geführt hat. Der Wirtschaftsanwalt und seine als Architektin tätige Frau werden in den Sumpf der Verdächtigungen mit hineingezogen und verlieren ihre gesellschaftliche Stellung. Sie durchschauen aber die politischen Machenschaften und moralischen Defekte ihrer Freunde und Geschäftspartner.

Fürsorgliche Belagerung. Roman, V 1979.
Im Mittelpunkt steht die Familie des nach dem Krieg vom Verleger einer Provinzzeitung zum Großverleger aufgestiegenen Fritz Tolm, Besitzer eines Schlosses. Von den Kindern hat sich nur Sabine konform verhalten und eine standesgemäße, wenn auch unglückliche Ehe geschlossen. Der Sohn Rolf gehört, nachdem er wegen Beteiligung an gewaltsamen Demonstrationen zu Haft verurteilt worden ist, der alternativen Szene an. Andere Familienangehörige sind Kommunisten oder bekennen sich, wie die ehemalige Schwiegertochter Veronica, zum Terrorismus. Sämtliche Mitglieder der Familie stehen, soweit sie greifbar sind, als von terroristischen Anschlägen bedroht rund um die Uhr unter Sicherheitsschutz.
Die Zeitspanne der Gegenwartshandlung beschränkt sich auf zwei Tage; sie reicht von der Wahl Tolms zum Verbandspräsidenten bis zu seiner Teilnahme an der Beisetzung des in Istanbul erschossenen Terroristen Bewerloh, der früher in enger Verbindung zu der Familie Tolm stand. In diesen beiden Tagen wird auch klar, dass Sabine von einem ihrer Bewacher ein Kind erwartet. Am Ende stehen die Nachrichten, dass Sabine mit dem Polizisten „durchgebrannt“ ist und der von Terroristen präparierte Enkel Holger das Schloss angezündet hat, worauf Tolm mit Gelächter reagiert.
Der Anteil dieser Gegenwartshandlung ist gering gegenüber der vergegenwärtigten Vergangenheit. Je näher die Erinnerungen an die Gegenwart heranrücken, desto deutlicher wird das dichte Gespinst der von den Sicherheitsbehörden ermittelten Informationen, umso größer wird aber auch die Sorge, dass das Sicherheitsnetz noch Lücken aufweist. So ist vor allem Tolm davon überzeugt, dass ihm aus seiner unmittelbaren Umgebung Gefahr droht. Der „Kapitalist“ Tolm ist es auch, der den „Roman der siebziger Jahre“ in die Überzeugung münden lässt: „Dass ein Sozialismus kommen muss, siegen muss …“


Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009

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