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Döblin, Alfred

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* 10. 8. 1878 in Stettin
† 28. 6. 1957 in Emmendingen bei Freiburg i. Br.


Das umfangreiche Romanwerk des Arztes und Schriftstellers – mit Schauplätzen in China, Indien, Südamerika, mit Themen aus Mythos, Geschichte und moderner technischer Entwicklung – liegt im Schatten eines Welterfolgs; 1955 bemerkte der Autor nicht ohne Enttäuschung: „Und wenn man meinen Namen nannte, so fügte man ‚Berlin Alexanderplatz‘ hinzu.“
Der Sohn eines jüd. Kaufmanns wuchs, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte, seit 1888 in Berlin auf. Sein Medizinstudium schloss er 1905 in Freiburg i. Br. mit der Promotion ab; nach einer Tätigkeit in der psychiatrischen Anstalt in Regensburg eröffnete er 1911 im Berliner Osten eine kassen­ärztliche Praxis für Neurologie und Psychiatrie (bis 1931, anschließend bis 1933 Privatarzt im Berliner Westen). Im I. Weltkrieg war er als Militärarzt tätig. 1918 trat er der revolutionären USPD bei, 1921–30 war er SPD-Mitglied.
In den Vorkriegsjahren gehörte Döblin zum Kreis um Herwarth Walden, den Förderer des Expressionismus, Kubismus und Futurismus. In Waldens Zeitschrift „Der Sturm“ erschienen die frühen Erzählungen, etwa 1910 Die Ermordung einer Butterblume, eine Satire auf das oberflächliche Verlangen nach Harmonie im Verhältnis von Mensch und Natur. Für den weltanschaulich u. a. durch Arthur Schopenhauer geprägten Roman Die drei Sprünge des Wang-lun (1915) mit dem zentralen Motiv der freiwilligen Selbstaufgabe wurde Döblin mit dem Kleist- und dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Unter dem Pseudonym „Linke Poot“ (Linke Pfote) veröffentlichte er Satiren auf die reaktionären Tendenzen der Weimarer Republik (Dt. Maskenball, 1921).
Als Emigrant (ab 1933 in Paris) unterstützte Döblin die zionistische „Freilandbewegung“. Sein 1935 erschienener Roman Pardon wird nicht gegeben schildert auf autobiografischer Grundlage (Werdegang des älteren Bruders) den äußeren Aufstieg und seelischen Niedergang eines Besitzbürgers im Wilhelminischen Dtl. Nach der Flucht in die USA (1940; New York, Los Angeles, Hollywood) konvertierte Döblin zum Katholizismus. 1945 kehrte er als kulturpolitischer Mitarbeiter der frz. Militärregierung nach Dtl. zurück; in Baden-Baden gab er 1946–51 die Zeitschrift „Das goldene Tor“ heraus, 1949 war er Mitbegründer und Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. 1953– 56 lebte er erneut in Paris. Sein letzter Roman, Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (1956), handelt unter zeitkritischem, psychoanalytischem und religiösem Aspekt von der (u. a. anhand von Erzählungen durchgeführten) psychotherapeutischen Behandlung eines geistig umnachteten Kriegsheimkehrers.

Romane: Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine (1918), Der schwarze Vorhang (E 1902/03, V 1919), Wallenstein (1920), Berge, Meere und Giganten (1924, Neufassung 1932 u. d. T. Giganten. Ein Abenteuerbuch), Pardon wird nicht gegeben (1935), Trilogie Amazonas (Das Land ohne Tod, Der blaue Tiger, Der neue Urwald, 1937–48), Trilogie November 1918 (1939–50). – Erzählungen: Slg. Die Ermordung einer Butterblume (1913), Der Oberst und der Dichter (1946). – Dramen: Die Nonnen von Kemnade (1923), Die Ehe (1931). – Essays: Futuristische Worttechnik (1913), Das Ich über der Natur (1928), Jüd. Erneuerung (1933), Flucht und Sammlung des Judenvolks (1935).

Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Roman, V 1929, Verf Dtl. 1931 Piel Jutzi, B. D. 1980 Rainer Werner Fassbinder.
Der Roman gliedert sich in neun durch Texte im Stil der Moritat bzw. von Stummfilm-Zwischentiteln eingeleitete Bücher: „Hier im Beginn verlässt Franz Biberkopf das Gefängnis Tegel.“ „Hier erlebt Franz Biberkopf, der anständige, gutwillige, den ersten Schlag. Er wird betrogen.“ „Er wird in ein Verbrechen hineingerissen (…).“ Konkret heißt dies: Der ehemalige Beton- und Transportarbeiter Biberkopf, der seine Freundin Ida im Affekt tödlich verletzt hat, versucht nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis als Straßenhändler Fuß zu fassen. Er gerät jedoch ins Verbrechermilieu; als Mitwisser soll er umgebracht werden und verliert hierbei einen Arm. Biberkopf wird Zuhälter. Der Psychopath Reinhold ermordet seine Geliebte, die Prostituierte Mieze. Als mutmaßlicher Täter verhaftet, bricht Biberkopf zusammen und kommt ins Irrenhaus. Reinhold wird als Täter entlarvt; Biberkopf erfährt eine innere Wandlung und erhält eine Anstellung als Hilfsportier.
Aufsehen erregte der Roman vor allem durch die Radikalität der Gestaltung der Großstadt als Panoptikum, in das die Biberkopf-Handlung eingebettet und mit dem sie verzahnt ist, und zwar ohne explizite psychologische oder soziologische Argumentation. Der Text bietet sich als Mosaik aus sprachlichen Realitätsfragmenten dar. Der Naturalismus der Dialoge (zumeist im Jargon des „kleinen Mannes“ Berliner Prägung) und der Detailbeschreibungen ist durchsetzt von Schlager- und Reklamefetzen, Verlautbarungen, Presseberichten, Statistiken und Kinderversen. Straßenbahnfahrgäste und Mietskasernen, die ins Blickfeld rücken, geben Anlass zu Kurzbiografien im Stil des Sozialreports. Einzelmotive erinnern an George Grosz und Otto Dix („Großstadt-Triptychon“, 1928).
Die Möglichkeiten der filmischen Montagetechnik hatte 1927 Walther Ruttmann mit „Die Sinfonie der Großstadt“ demonstriert. Döblin zeigte jedoch, dass die Sprache mehr als alle anderen Gestaltungsformen in der Lage ist, die Heterogenität und Simultaneität der Wahrnehmung nachzubilden – eine ästhetische Maxime, die um 1910 die Begründer des Futurismus aufgestellt hatten. Mit ihm setzte sich Döblin anlässlich der Berliner Futuristen-Ausstellung 1912 auseinander. Er wendete sich gegen eine rein formalistische Aufhebung herkömmlicher Formen der Gegenstandsbeschreibung: „Was nicht direkt, nicht unmittelbar, nicht gesättigt von Sachlichkeit ist, lehnen wir ab.“ Solcher „Sättigung“ diente Döblins Montage-Stil.
Ein zweites prägendes Stilmittel ist die Verwendung des inneren Monologs. Er setzt vielfach inmitten eines Dialogs oder einer Schilderung ein und dient dem Wechsel der Perspektive. Ihm entsprechen die reflektierenden, auch ironisierenden und vorausgreifenden Einschübe des Erzählers, zu dessen Funktionen es auch gehört, versuchsweise das Geschehen des Jahres 1928 auf den Hintergrund der antiken Mythologie zu projizieren oder einen Totschlag mit Hilfe physikalischer Gleichungen zu beschreiben.
Das offenkundige Ziel Döblins, ein „unmittelbares“ Bild der „von Kriminalität unterwühlten“ Gesellschaft am Beispiel Berlins zu gestalten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Roman eine religiöse Fragestellung zugrunde liegt. So gehören zu den „einmontierten“ Fragmenten der Garten Eden und die Gestalten Hiob sowie Abraham und Isaak: „Das Opfer war das Thema des ‚Alexanderplatz‘. Das Bild vom Schlachthof, von der Opferung Isaaks, das durchlaufende Zitat: ‚Es ist ein Schnitter, der heißt Tod‘ hätten aufmerksam machen sollen. Der ‚gute‘ Franz Biberkopf mit seinen Ansprüchen an das Leben lässt sich bis zu seinem Tod nicht brechen. Aber er sollte gebrochen werden, er musste sich aufgeben, nicht bloß äußerlich. Ich wusste freilich selbst nicht wie“ (Döblin in Epilog, 1955).


Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009

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