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Schnitzler, Arthur

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* 15. 5. 1862 in Wien
† 21. 10. 1931 in Wien


Als „Komödie unserer Seele, / Unsres Fühlens Heut’ und Gestern, / (…) Agonien, Episoden“ charakterisierte „Loris“ Hofmannsthal 1892 in seinem „Prolog“ zu Anatol Schnitzlers dramatisches Erstlingswerk. Von diesem impressionistisch-ästhetizistischen Ausgangspunkt aus führt das Schaffen des Dramatikers und Erzählers mitten in die gesellschaftliche Auseinandersetzung, ohne sich einer „Tendenz“ zu unterwerfen. Symptome der Treffsicherheit, mit der Schnitzler den Nerv der Zeit berührt hat, sind das 1912 durch die Wiener Zensurbehörde „vom Standpunkte der Wahrung religiöser Gefühle der Bevölkerung“ aus erlassene Aufführungsverbot von Professor Bernhardi und der 1921 in Berlin geführte Reigen-Prozess zwecks Aufrechterhaltung der Sittlichkeit.
Der Sohn eines jüd. Arztes, Universitätsprofessors und Klinikgründers studierte in Wien 1879–85 Medizin, arbeitete mit Sigmund Freud an einer psychiatrischen Klinik und eröffnete eine Privatpraxis für Nerven- und Kehlkopferkrankungen. Zugleich wandte sich Schnitzler der Literatur zu und veröffentlichte nach ersten Prosaskizzen 1889 die Szene Episode aus Anatol.
Von Liebe und Tod handelt das 1895 uraufgeführte Schauspiel Liebelei: Das „süße Mädel“ Christine stürzt sich aus dem Fenster, nachdem ihr Geliebter wegen einer schon beendeten Liebschaft, aus „nichtigem Grund“, im Duell erschossen worden ist. Der erstarrte Ehrenkodex ist auch Thema der Erzählung Leutnant Gustl (1900). Die hier angewandte Erzählform des „inneren Monologs“ fand ihre klarste Ausprägung in Fräulein Else (1924): Zur Sprache kommen ausschließlich die disparaten, von tiefer Vereinsamung zeugenden Empfindungen und Wahrnehmungen der Titelgestalt, die den Wunsch eines Kunsthändlers, sich ihm nackt zu zeigen, in aller Öffentlichkeit erfüllt und danach Selbstmord begeht. Als literarische Umsetzung der tiefenpsychologischen Erkenntnisse Freuds schildert die Traumnovelle (1926) die im Traum und in traumhaftem Erleben geleistete Aufarbeitung der sexuellen Bedrängnisse eines Ehepaares. In Spiel im Morgengrauen (1927) spiegelt sich die gesellschaftliche Disharmonie in der von Zufällen bestimmten Handlungsstruktur. Der Roman Therese (1928) mündet als „Chronik eines Frauenlebens“ in die melancholische Erkenntnis des persönlichen Versagens. Als satirisches Frühwerk konfrontiert der Einakter Der grüne Kakadu (U, V 1899) die künstlerische Scheinwelt (Schauspieler attackieren von der Bühne herab ihr aristokratisches, belustigtes Publikum) mit der Tatkraft des Volkes, das die Bastille erstürmt.

Romane: Der Weg ins Freie (1908), Therese. Chronik eines Frauenlebens (1928). – Erzählungen: Sterben (1895), Fräulein Else (1924, Verf Dtl. 1929 Paul Czinner), Traumnovelle (1926), Spiel im Morgengrauen (1927). – Dramen: Anatol (Teil-V ab 1889, V 1893, U 1910), Liebelei (U 1895, V 1896; Verf u. a. Österreich 1911, Dtl. 1932 Max Ophüls, u. d. T. Christine Frankr./Italien 1958 Pierre Gaspard-Huit), Reigen. Zehn Dialoge (E 1896/97, Privatdruck 1900, V 1903, Teil-U 1903, U 1920), Der grüne Kakadu (U, V 1899), Der einsame Weg (V 1903, U 1904), Komtesse Mizzi oder Der Familientag (V 1908, U 1909), Das weite Land (U, V 1911). – Essays: Der Geist im Wort und der Geist in der Tat (1926). – Autobiografisches: Eine Jugend in Wien (posthum 1968).

Leutnant Gustl. (Originaltitel: Lieutenant Gustl) Novelle, Zs 1900, V 1901.
Nach einem Konzertbesuch im Gedränge an der Garderobe wegen seines arroganten Verhaltens als „dummer Bub“ bezeichnet, sieht sich Leutnant Gustl in seiner Ehre verletzt. Da sein Beleidiger nicht satisfaktionsfähig ist und somit ein Duell ausgeschlossen bleibt, sieht Gustl keine andere Lösung, als sich am kommenden Morgen „gleich eine Kugel vor den Kopf“ zu schießen. Er verbringt die Nacht im Prater und besucht nach Tagesanbruch sein Stammcafé, um ein letztes Mal ausgiebig zu frühstücken. Hierbei erfährt er von seinem „Mordsglück“, dass nämlich sein Beleidiger in der Nacht gestorben ist; durch diesen Zufall erscheint die eigene Schande als getilgt, und Gustl kann sein gewohntes Leben fortführen. Gibt allein schon der Handlungsverlauf den militärischen Ehrenkodex der Lächerlichkeit preis, so wird diese Wirkung durch die Erzählweise zur satirischen Selbstentlarvung gesteigert. Erstmals in der dt. Literatur ist hier eine Erzählung konsequent als „innerer Monolog“ gestaltet. Der Erzähler tritt vollständig hinter der Wiedergabe der subjektiven Eindrücke, Urteile, Erinnerungen und Entschlüsse der Hauptgestalt zurück; der ausschließlich „personale“ Text wird zum Psychogramm der Erzählfigur.
Zugrunde liegen Erkenntnisse aus der Erforschung des Unbewussten (Sigmund Freud, eigene Erfahrungen Schnitzlers aufgrund seiner Tätigkeit als Nervenarzt) und die hieraus sich ergebende Auffassung des Bewusstseins als „Bühne“ eines Geschehens, das vom Ich nicht rational geordnet, sondern vom Unbewussten sowie von äußeren Eindrücken und Reizen geformt wird. Die Wiedergabe dieses Geschehens erweist sich als wirkungsvolles Mittel einer psychologisch-realistischen Darstellung der Gesellschaft, gespiegelt in der subjektiven, von individuellen Bedingungen und Bedürfnissen beeinflussten Verarbeitung ihrer Wertmaßstäbe und Verhaltensnormen.

Professor Bernhardi. Drama in 5 Akten, U, V 1912.
Prof. Bernhardi, Gründer und Direktor der Klinik „Elisabethinum“, verwehrt einem Priester den Zutritt zum Sterbebett einer Patientin, um zu verhindern, dass sie durch die Letzte Ölung aus ihrem kurz vor dem Tod eingetretenen euphorischen Zustand gerissen wird. Diese humanitäre Entscheidung des jüd. Arztes wird von seinen Gegnern, allen voran dem Vizedirektor Dr. Ebenwald, zum Anlass genommen, ihn aus seiner Stellung zu drängen; ein Prozess gegen ihn soll dazu dienen, „der christlichen Bevölkerung Wiens Genugtuung zu verschaffen“. Nachdem Bernhardi sich geweigert hat, bei der Neubesetzung einer Institutsstelle den hoch qualifizierten jüd. Arzt Dr. Wenger fallen zu lassen und für Ebenwalds Kandidaten zu stimmen, kommt es obendrein zu einer antisemitischen Interpellation an die Regierung, in der indirekt ein Ausschluss von Juden aus öffentlichen Ämtern gefordert wird. Bernhardi, der schon vor Prozessbeginn seine Ämter niedergelegt hat, wird zu 2 Monaten Haft verurteilt. Dies hat allerdings zur Folge, dass ihn die liberale Presse als „politisches Opfer klerikaler Umtriebe“ zum Märtyrer erhebt. Nach seiner Entlassung bewirkt die demonstrative Konsultation durch einen Prinzen seine Rehabilitierung.
Während das Stück 1912 in Berlin zur Uraufführung kam, folgte die Wiener Erstaufführung erst 1920 nach einem 1912 verhängten und 1913 vom „Standpunkt des patriotischen Empfindens“ aus bestätigten Aufführungsverbot. In einem Brief an den Historiker Richard Charmatz, der sich Bernhardi als „Urteutonen“ gewünscht hätte, vertrat Schnitzler die Überzeugung, dass es unmöglich sei, „heute ein in politischen Kreisen spielendes österreich. Stück zu schreiben, ohne (…) dem Vorhandensein jüd. Elemente und der Eigentümlichkeit jüd. Geistes (…) Rechnung zu tragen. Und eine österreich. Komödie“, betont Schnitzler, „habe ich geschrieben.“


Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009

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