Lexikon

Suche


Bitte hier Suchbegriff eingeben.


Mann, Thomas

Drucken

* 6. 6. 1875 in Lübeck
† 12. 8. 1955 in Zürich


Während der NS-Herrschaft wie kaum ein anderer Emigrant als Repräsentant des „anderen Dtl.“ geachtet, geriet Thomas Mann nach dem Krieg in Konflikt mit den Vertretern der „inneren Emigration“ (Frank Thieß), die sich ihren Verzicht auf die „Logen und Parterreplätze“ des Auslands zugute hielten. Mann blieb in zumindest räumlicher Distanz zur dt. Nachkriegsentwicklung und verkörperte zugleich – im Goethe-Jahr 1949 in Frankfurt und Weimar, im Schiller-Jahr 1955 in Stuttgart und Weimar – das Bewusstsein vom kulturellen Erbe, das die „dt. Schmach“ (Th. Mann) überdauern werde, und möglicherweise dazu beitragen könne, die dt. Spaltung zu überwinden.
Der jüngere Bruder H. Manns verließ nach der mittleren Reife das Lübecker Gymnasium und siedelte 1893 mit der im Vorjahr verwitweten Mutter nach München über. Hier war er 1894 Volontär einer Feuerversicherungsgesellschaft und 1895/96 Student an der TH, ab 1896 hielt er sich in Italien auf, 1898 (Novellenband Der kleine Herr Friedemann) und 1899 gehörte er in München zu den Mitarbeitern des „Simplicissimus“, 1900 leistete er seinen Militärdienst ab. Prägende Einflüsse gingen von Heine aus (spürbar bis hin zur Auseinandersetzung mit der Moses-Gestalt in der Erzählung Das Gesetz, 1944) sowie von Nietzsche und Richard Wagner. Berühmtheit brachte der Roman Buddenbrooks (1901). 1905 heiratete Mann Katja Pringsheim (1905 Geburt der Tochter Erika, 1906 des Sohns Klaus, 1909 des Sohns Golo, es folgten drei weitere Kinder).
Während des I. Weltkriegs spitzte Mann seine Auffassung des Gegensatzes zwischen Leben (Staat) und Geist (Kunst) bis hin zur (positiven) Definition des dt. Wesens als „Antidemokratismus“ zu; in den Betrachtungen eines Unpolitischen (E 1915–1917, V 1918) richtete er scharfe Angriffe gegen das von H. Mann geforderte politische Engagement des Künstlers, das er als „reglementierte Geistigkeit“ verwarf. Während der Weimarer Republik öffnete er sich einem neuen Demokratieverständnis, wobei Goethe zum Leitbild eines der Humanität verpflichteten Künstlertums wurde (1923 Essay Goethe und Tolstoi, 1932 Rede im Goethe-Jahr Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters, 1939 folgte der Goethe-Roman Lotte in Weimar). 1929 erhielt er in Anerkennung v. a. des Romans Buddenbrooks (1901) als „eines der klassischen Werke der zeitgenössischen Literatur“ den Nobelpreis für Literatur (vgl. Hauptmann, Böll und Grass).
1930 wandte sich Mann mit seiner Dt. Ansprache. Ein Appell an die Vernunft gegen den Nationalsozialismus; die im selben Jahr erschienene Erzählung Mario und der Zauberer schildert als antifaschistische Parabel einen seine Umgebung faszinierenden verkrüppelten Hypnotiseur, der von seinem Opfer Mario erschossen wird. Im Münchner Vortrag Leiden und Größe Richard Wagners (Februar 1933) zum 50. Todestag Wagners sprach Mann vom politischen Weg des Komponisten, den die Nazis u. a. wegen antisemitischer Schriften wie Die Juden in der Musik (1850) als den angeblichen Verherrlicher des Germanentums ideologisch vereinnahmt hatten, „von der Revolution zur Enttäuschung, zum Pessimismus und einer resignierten, machtgeschützten Innerlichkeit“ und löste damit eine Hetzkampagne aus, die ihn veranlasste, von einem Auslandsaufenthalt nicht nach Dtl. zurückzukehren. Zur Hauptarbeit im Exil in Küsnacht bei Zürich wurde die Romantetralogie Joseph und seine Brüder (V 1933–43); 1936 wurde ihm die dt. Staatsbürgerschaft aberkannt, 1938 siedelte er in die USA über(Gastprofessur in Princeton, 1940 Umzug nach Kalifornien, 1941–52 Wohnsitz in Pacific Palisades, 1944 erhielt er die amerikan. Staatsbürgerschaft). Als selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erschien 1938 der Essay Bruder Hitler (Ausdruck der „peinlichen Verwandtschaft“ mit der abscheulichsten „Erscheinungsform des Künstlertums“). Während des II. Weltkriegs engagierte sich Mann in zahlreichen antifaschistischen Vereinigungen (u. a. Ehrenvorsitz der „American Guild for German Cultural Freedom“), von 1940 an wandte er sich über die BBC an Dtl. (Slg. Deutsche Hörer! 25 Radiosendungen nach Deutschland, 1942; erw. Ausgabe 1945). Ab 1943 entstand der Roman Doktor Faustus (V 1947), 1949 folgte als „Roman eines Romans“ die Entstehung des Doktor Faustus. Als „Rekapitulation eines abendländischen Mythos“ erschien 1951 der Roman Der Erwählte, eine Nachgestaltung des Epos Gregorius Hartmanns von Aue. Fragment blieb die Gestaltung des Felix-Krull-Stoffes als ironischer Künstler- und erneuerter Schelmenroman.
1949 kehrte Mann erstmals nach Dtl. zurück, 1952 ließ er sich in der Schweiz nieder (1954 in Kilchberg bei Zürich). Wenige Wochen vor seinem Tod diagnostizierte er in Reden anlässlich des 150. Todestags Schillers das Taumeln einer „von Verdummung trunkenen, verwahrlosten Menschheit unterm Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem schon gar nicht mehr ungewollten Untergange entgegen“.
2001 erreichte das dreiteilige Doku-Drama (Spielszenen und Interviews mit Zeitzeugen) Die Manns – Ein Jahrhundertroman der Autoren Heinrich Breloer (auch Regie) und Horst Königstein ein breites Fernsehpublikum (als Buch 2002). Im Mittelpunkt steht der Patriarch Thomas Mann; die drei Teile schildern seine Lebensabschnitte ab 1923, 1933 und 1941. Als Erzählerin beeindruckt Katja und Thomas Manns jüngste Tochter, die Meeresforscherin Elisabeth Mann-Borghese (1918–2002). Eine neue Sicht des Ehepaars Mann veröffentlichte 2003 das Ehepaar Inge und Walter Jens.

Romane: Königliche Hoheit (1909, Verf B. D. 1953 Harald Braun), Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Buch der Kindheit (E 1911, V 1922), Joseph und seine Brüder (Tetralogie: Die Geschichten Jaakobs, 1933; Der junge Joseph, 1934; Joseph in Ägypten, 1936; Joseph, der Ernährer, 1943), Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil (1954, Verf B. D. 1957 Kurt Hoffmann). – Erzählungen: Slg. Das Wunderkind (1914), Wälsungenblut (1921, Verf B. D. 1964 Rolf Thiele), Unordnung und frühes Leid (1926, Verf B. D. 1976 Franz Seitz), Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis (1930, Verf 1994 B. D. Klaus Maria Brandauer), Die vertauschten Köpfe. Eine indische Legende (1940), Das Gesetz (1944), Der Betrogene (1953). – Dramen: Fiorenza (V 1905, U 1907). – Essays und Reden: Friedrich und die große Koalition (1915), Goethe und Tolstoi (1923, Neufassung 1932), Von Deutscher Republik (1923), Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft (1930), Slg. Leiden und Größe der Meister (1935), Versuch über Schiller (1955). – Autobiografisches: Herr und Hund (1919), Lübeck als geistige Lebensform (1926), Leiden an Deutschland. Tagebuchblätter aus den Jahren 1933 und 1934 (1946).

Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman, E 1897–1900, V 1901, Verf Dtl. 1923 Gerhard Lamprecht, B. D. 1959 Alfred Weidenmann, 2008 HeinrichBreloer.
Das ursprünglich als Erzählung (mit der Gestalt des jungen „décadent“ Hanno als Hauptfigur) sowie als Gemeinschaftsarbeit mit H. Mann geplante Werk ist nach Th. Manns eigener Charakterisierung „ein als Familien-Saga verkleideter Gesellschaftsroman, (…) ein vom Verfallsgedanken überschattetes Kulturgemälde“. Die Handlung erstreckt sich über den Zeitraum 1835–77 und schildert vier Generationen der Lübecker Kaufmannsfamilie Buddenbrook, die Ähnlichkeit mit der Familie Mann besitzt. Ebenso haben zahlreiche Nebenfiguren ein reales Vorbild; schon bald nach dem Erscheinen des Romans setzten die Bemühungen ein, sämtliche Gestalten des „Schlüsselromans“ zu dechiffrieren.
Das tatkräftige, wirtschaftlich erfolgreiche und weltoffene Bürgertum wird durch den zu Beginn des Romans etwa 70-jährigen Johann Buddenbrook repräsentiert. In seinem Sohn, dem Konsul Johann Buddenbrook, verbinden sich bürgerliche Rechtschaffenheit und pietistische, die Weltoffenheit einschränkende Lebensauffassung. Der hier sich andeutende Zwiespalt zwischen der Bindung an Beruf und politische Tätigkeit einerseits und der seelischen Entwicklung andererseits verschärft sich in der dritten Generation. Zum entscheidenden Bildungserlebnis des als Senator im Gemeinwesen zu einer führenden Stellung gelangten Thomas Buddenbrook wird die Philosophie Arthur Schopenhauers; kennzeichnend ist sein Vergleich zwischen den Schauplätzen Hochgebirge und Meer: „Man klettert keck in die wundervolle Vielfachheit der zackigen, ragenden, zerklüfteten Erscheinungen hinein, um seine Lebenskraft zu erproben, von der noch nichts verausgabt wurde. Aber man ruht an der weiten Einfachheit der äußeren Dinge, müde wie man ist von der Wirrnis der inneren.“
Den Typus des – an bürgerlichen Maßstäben gemessen – lebensuntüchtigen, clownesken Exzentrikers verkörpert Christian Buddenbrook, der in Bohemekreisen verkehrende Bruder des Senators. Die lebenslustige Schwester Tony durchleidet zwei scheiternde Ehen, ohne an Reife zu gewinnen. Die als „grau“ geschilderte Schwester Clara stirbt kurz nach ihrer Heirat. Die künstlerische Begabung der Ehefrau des Senators, die zugleich ein gewisses Maß an „Exotik“ und „nervöse Kälte“ besitzt, gewinnt im Repräsentanten der vierten Generation, dem hochmusikalischen und übersensiblen Hanno, die Oberhand. Sein Tod in jungen Jahren an Typhus versinnbildlicht den Endpunkt eines schrittweisen Verlustes an Vitalität, den der Abbau wirtschaftlicher Potenz und gesellschaftlicher Reputation begleitet. Die gegenläufige Entwicklungslinie bezeichnet der Aufstieg der Familie Hagenström; durch sie tritt der Typus des kapitalistischen Bourgeois an die Stelle des patrizischen Bürgers.
Die Schilderung des „Verfalls einer Familie“ besitzt aufgrund der kulturgeschichtlichen Konzeption Th. Manns auch Aspekte des Neubeginns. Verfall steht, als notwendige Phase der Aufhebung traditioneller Werte, in engstem Zusammenhang mit Fortentwicklung. Die Gestalt Hannos deutet die Möglichkeit einer aus Lebensuntüchtigkeit hervorgehenden Lebenssteigerung im Geistigen an.
Das Grundthema einer zunehmenden geistigen und seelischen Differenzierung bestimmt auch die Erzählweise. Die zunächst vorherrschende Realistik (chronologische Abfolge, Personencharakterisierung durch jeweils spezifisches Sprachverhalten) weicht schrittweise einer Auflösung des unmittelbaren Erzählzusammenhangs zugunsten eines Gefüges aus indirekter und erlebter Rede, Exkursen, mehrgliedriger Handlungsführung und vielfältig variierten Motiven. Hannos Tod ist nur mittelbar einer medizinischen Erörterung über den Typhus zu entnehmen.

Tonio Kröger. Novelle, E ab 1899, V 1903, Verf B. D. 1964 Rolf Thiele.
Die Symmetrieachse der dreiteiligen Komposition bildet ein Gespräch des jungen Schriftstellers Tonio Kröger mit der russ. Malerin Lisawetta Iwanowna, die in ihrem Freund den „verirrten Bürger“ erkennt. Im Mittelpunkt steht das Verhältnis zwischen Leben und Kunst, das von Kröger als Missverhältnis erlebt wird. Symptomatisch ist die Verbindung von gesteigerter künstlerischer Kraft und geschwächter Gesundheit.
Der erste Teil schildert die Jugend des sensiblen Kröger, sein Werben um die Freundschaft des unkomplizierten Hans Hansen, die mit „seliger Selbstverleugnung“ verbundene Liebe zur fröhlichen Inge während der Tanzstundenzeit. Der dritte Teil variiert in gemilderter Form die im ersten geschilderte Sehnsucht nach den „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ anlässlich der Wiederbegegnung Krögers mit Hans und Inge während eines Tanzfests in einem dän. Badeort.

Der Tod in Venedig. Novelle, E 1911, V 1912, Verf 1971 Luchino Visconti.
Der in München lebende, schon früh zu Erfolg gelangte Schriftsteller Gustav von Aschenbach wird von einer „ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung“ gesteigerten Reiselust gepackt, die ihn nach Venedig führt. Hier weckt die Begegnung mit dem durch antikische Schönheit ausgezeichneten und durch Krankheit geadelten poln. Knaben Tadzio in dem alternden Künstler homoerotische Empfindungen, die zwar seine schöpferische Kraft neu aufleben lassen, jedoch in diametralem Gegensatz zu Aschenbachs bürgerlichen Idealen der Haltung und Würde stehen: Die „anderthalb Seiten erlesener Prosa“, die Aschenbach gelingen, werden von ihm als „geistige Ausschweifung“ empfunden. Der Zwiespalt findet seinen äußeren Ausdruck in der tödlichen Erkrankung Aschenbachs an der in Venedig grassierenden Choleraseuche.

Der Zauberberg. Roman, E ab 1912, v. a. 1919–24, V 1924, Verf B. D. 1982 Hans W. Geissendörfer.
Als Schauplatz dient das von Hofrat Behrens ärztlich geleitete Lungensanatorium „Berghof“ in Davos, die Handlung „spielt (…) ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege“. Im Mittelpunkt steht der aus dem „Flachland“ stammende junge Hans Castorp, der nach Davos reist, um seinen Vetter Ziemßen zu besuchen; er verbringt schließlich 7 Jahre als Patient im „Berghof“ und wird dann in den Krieg entlassen, in das „Weltfest des Todes“.
Um Castorp, einen „einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen“, gruppieren sich Repräsentanten der verschiedensten geistigen Strömungen und Lebensauffassungen. Insbesondere der Jesuit Naphta und der Humanist Settembrini versuchen, auf Castorp Einfluss zu gewinnen (der Erzähler bekennt sich zur „pädagogischen Neigung“, die er im Laufe seiner Geschichte zu Castorp gefasst hat); einen heroischen Vitalismus verkörpert der im Selbstmord endende Holländer Pieter Peeperkorn. Inmitten des „hermetischen Zaubers“ des Sanatoriums entsteht das vielfach ins Groteske gesteigerte Bild einer von der Faszination durch den Tod geprägten Epoche – dem Roman liegt die Absicht zugrunde, „etwas wie ein Satyrspiel zum Tod in Venedig“ zu gestalten. Zugleich erfährt Castorp, so betont Th. Mann, auf dem „Zauberberg“ eine „Steigerung, die ihn zu moralischen, geistigen und sinnlichen Abenteuern fähig macht, von denen er sich in der Welt, die immer ironisch als Flachland bezeichnet wird, nie hätte etwas träumen lassen“.
Eine das Erzählte und den Erzählvorgang verknüpfende Thematik ist die Zeit, ausgehend von der Reflexion des Erzählers über den „Vergangenheitscharakter“ der nur wenige Jahre zurückliegenden Geschichte, deren „hochgradige Verflossenheit“ daher rührt, dass sie „vor einer gewissen, Leben und Bewusstsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt“.

Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Roman, E 1943–47, V 1947, Verf B. D. 1982 Franz Seitz.
Als Erzähler tritt der Altphilologe Dr. Serenus Zeitblom, der (genau wie Th. Mann selbst) am 23. Mai 1943 mit der Niederschrift der Biografie beginnt. Leverkühn, 1885 als Sohn eines Bauern geboren, entwickelt als Schüler ein leidenschaftliches Interesse für Musik, studiert jedoch zunächst Theologie, um sich schließlich als Komponist ganz der Musik zu widmen. Geprägt von dem Bewusstsein, dass alle herkömmlichen musikalischen Mittel ausgeschöpft sind, wächst in ihm die Bereitschaft zum Teufelspakt: 1905 in Leipzig in einem Bordell von dem Mädchen Esmeralda an der Wange berührt, sucht der „Gezeichnete“ im folgenden Jahr Esmeralda in Preßburg auf und setzt, obwohl vor der zu erwartenden Syphilis-Infektion gewarnt, sein „tief geheimstes Verlangen nach dämonischer Empfängnis, nach einer tödlich entfesselnden chymischen Veränderung seiner Natur“ durch. Besiegelt wird der Pakt fünf Jahre später durch eine Begegnung mit dem leibhaftigen Teufel. Der Pakt besagt: „Liebe ist dir verboten, insofern sie wärmt. Dein Leben soll kalt sein – darum darfst du keinen Menschen lieben. (…) Kalt wollen wir dich, dass kaum die Flammen der Produktion heiß genug sein sollen, dich darin zu wärmen. In sie wirst du flüchten aus deiner Lebenskälte …“ In zunehmender Zurückgezogenheit gelangt Leverkühn zu der ihm zugesagten künstlerischen Steigerung, ausgehend von der (in einer Nachbemerkung als Arnold Schönbergs geistiges Eigentum ausgewiesenen) Zwölftontechnik. Sein letztes Werk ist die Tondichtung „Dr. Fausti Weheklag“. Während einer Lebensbeichte, zu der Leverkühn (wie Faust in der Historia von D. Johann Fausten, 1587) seine Freunde 1930 versammelt hat, bricht er zusammen; er lebt bis zu seinem Tod 1940 in geistiger Umnachtung.
Leverkühns Lebensweg ist als Widerspiegelung der dt. Kulturgeschichte und ihrer krisenhaften Entwicklung im 20. Jh. konzipiert. Hierbei dient die Musik als „Mittel, die Situation der Kunst überhaupt, der Kultur, ja des Menschen, des Geistes selbst in unserer durch und durch kritischen Epoche auszudrücken“. Die Person des Erzählers Zeitblom, dem es vollkommen fern liegt, sich „mit den unteren Mächten verwegen einzulassen“, dient dazu, das „Dämonische durch ein exemplarisch undämonisches Mittel gehen zu lassen“. Zugleich repräsentiert Zeitblom das Bewusstsein des inneren Zusammenhangs zwischen der Vergangenheits- und der Gegenwartshandlung, nämlich der Niederschrift der Leverkühn-Biografie während des sich abzeichnenden Zusammenbruchs des Hitlerreichs. Im Hinblick auf die Vergangenheit bemerkt Zeitblom: „Die Zeit, von der ich schreibe, war für uns Deutsche eine Ära des staatlichen Zusammenbruchs, der Kapitulation, der Erschöpfungsrevolte und des hilflosen Dahingegebenseins in die Hände der Fremden.“ Im Hinblick auf die Gegenwart: „Die Zeit, in der ich schreibe, die mir dienen muss, in stiller Abgeschiedenheit diese Erinnerungen zu Papier zu bringen, trägt, grässlich schwellenden Bauches, eine vaterländische Katastrophe im Schoß, mit der verglichen die Niederlage von damals als mäßiges Missgeschick, als verständige Liquidierung eines verfehlten Unternehmens erscheint.“
Im Bericht Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans (1949) schildert Mann die keineswegs durch „Abgeschiedenheit“, sondern politisch-publizistische Inanspruchnahme gekennzeichneten Lebensumstände während der Arbeit an seinem „Lebens- und Geheimwerk“. Auch gibt er Hinweise auf die zahllosen Anregungen, etwa durch die Musikphilosophie Theodor W. Adornos; zu den „Vorbildern“ Leverkühns gehören Nietzsche und Hugo Wolf. Für sein erzählerisches Verfahren prägte Mann den Begriff „Montage-Technik“.


Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009

Autoren-Lexikon
Das Lexikon bietet Informationen zu allen in deutsch.kompetent erwähnten Autoren.