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Walser, Martin

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* 24. 3. 1927 in Wasserburg (Bodensee)

Seine durch Arbeitsdienst, Einsatz als Flakhelfer und Gefangenschaft unterbrochene Schulausbildung schloss Walser 1946 mit dem Abitur ab; 1948–51 studierte er in Tübingen Geschichte, Philosophie und Literatur (Promotion über Kafka). Als Mitarbeiter des Süddt. Rundfunks (ab 1949) war er in der Unterhaltungsabteilung, dann im Ressort Politik und Zeitgeschehen tätig. 1955 erhielt er den Preis der „Gruppe 47“ (Slg. Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten ), seit 1957 (Hesse-Preis für den Roman Ehen in Philippsburg ) lebt er als freier Schriftsteller am Bodensee (Nußdorf bei Überlingen). Ende der 1960er Jahre unterstützte er den Protest gegen den amerikan. Krieg in Vietnam, Anfang der 1970er Jahre stand er mit dem von Wallraff mitbegründeten „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ in Verbindung. 1981 wurde Walser mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Seine Dankrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Dt. Buchhandels (1998) enthält die Kritik an einer bloßen Ritualisierung des dt. Schuldbekenntnisses. Das zentrale Thema des Erzählers Walser ist der gesellschaftliche Zwang zur Anpassung, den seine zumeist aus der Mittelschicht stammenden bzw. in diese aufsteigenden Protagonisten resignierend hinnehmen. Der Roman Seelenarbeit (1979) schildert die selbstquälerischen Anstrengungen des Chauffeurs Xaver Zürn, seinem Herrn, dem Industriellen Dr. Gleitze, stets zu Diensten zu sein, wodurch er nicht allein als Ehemann (der Chef „siegt hier in unserem Schlafzimmer ununterbrochen“) und Vater versagt, sondern auch erkrankt („Der Stoffwechsel ist abhängig von der Arbeit der Seele“, ermahnt ihn ein Arzt); die Deklassierung zum Gabelstaplerfahrer lässt hoffen, dass er wieder festen Boden unter den Füßen bekommt. Von der Weigerung des Alfred Dorn, erwachsen zu werden, handelt der Roman Verteidigung der Kindheit (1991), in Finks Krieg (1996) kämpft ein hess. Ministerialrat (nach authentischem Vorbild) gegen die Staatskanzlei, da er auf Grund parteipolitischer Intrigen entlassen worden ist. Der Roman Tod eines Kritikers (2002) wurde als persönliche Abrechnung mit einem allmächtigen Akteur des Literaturbetriebs (miss-)verstanden. Meßners Reisen (2003) setzen Meßners Gedanken (1985) autobiografisch fort. 2004 erschien der Roman Der Augenblick der Liebe und die Essaysammlung Die Verwaltung des Nichts. Walsers Tagebücher der Jahre 1951–1962 veröffentlichte er 2005 unter dem Titel Leben und Schreiben. 2006 erschienen die Romane Angstblüte und Der Lebensroman des Andreas Beck. 2007 veröffentlichte Walser neununddreißig Balladen unter dem Titel Das geschundene Tier und 2008 den Roman Ein liebender Mann.
Als Dramatiker variiert Walser die Anpassungsthematik teilweise an historischen, zumeist grotesk gestalteten Themen: Überlebensgroß Herr Krott. Requiem für einen Unsterblichen (U 1963, V 1964) schildert die uneingeschränkte Herrschaft des kapitalistischen Monstrums Krott; Das Sauspiel. Szenen aus dem 16. Jahrhundert (U, V 1975, Musik von Mikis Theodorakis) spielt in Nürnberg um 1526 nach Niederschlagung der Bauernerhebung. Walsers Beitrag zum Goethe-Jahr 1982 bildete das Stück In Goethes Hand über die Beziehung zwischen dem Dichterfürsten und seinem Sekretär Eckermann. Reden und Aufsätze enthalten die Bde. Heimatkunde (1968), Wie und wovon handelt Literatur? (1973), Was zu bezweifeln war (1976), Wer ist ein Schriftsteller? (1978) und die Slg. Ich vertraue. Querfeldein (2000). Walsers Frankfurter Poetik-Vorlesungen erschienen 1981 u. d. T. Selbstbewusstsein und Ironie.

Eiche und Angora. Drama in 11 Bildern, U, V 1962.
Als Schauplatz dient der „Eichenkopf": 1945 Hauptquartier der Verteidiger des Städtchens Bezgenburg, 1960 Standort des Höhenrestaurants „Teutach-Blick“. Im Mittelpunkt steht der im KZ entmannte und einer Gehirnwäsche unterzogene ehemalige Kommunist Alois Grübel, Züchter „reinrassiger“ Angorakaninchen. Im Unterschied zum NS-Kreisleiter Gorbach und zu anderen Honoratioren verpasst Grübel im jeweils entscheidenden Moment die Anpassung an die neuen politischen Verhältnisse und ist insofern der Antiheld eines Stückes über das von Wal­ser thematisierte „spezifisch dt. Talent, einem Staat zu dienen“.
Als 2. Teil seiner „dt. Chronik“ ließ Walser das Drama Der schwarze Schwan folgen (U, V 1964). Im Mittelpunkt steht der Sohn des ehemaligen KZ-Arztes Goothein, der Kenntnis von der Vergangenheit seines Vaters erhalten hat. Er nimmt sich das Leben, nachdem er vergeblich versucht hat, diesen durch ein Erinnerungsspiel (in dem er einen SS-Offizier, den „schwarzen Schwan“, spielt) zu einem Geständnis zu bewegen.

Die ZimmerschlachtÜbungsstück für ein Ehepaar.. Drama in 2 Akten, U 1967.
Das 2-Personen-Stück handelt von dem Erdkundelehrer Felix und dessen Frau Trude, die ihren Beruf als Ärztin aufgegeben hat, um sich auf ihre Aufgaben als Hausfrau zu beschränken. Nach 20-jähriger Ehe wahren sie, innerlich frustriert, den Anschein der Normalität im Rahmen der gesellschaftlichen Konventionen. Während Felix seine Ehe aus Bequemlichkeit und dem Bedürfnis nach Sicherheit beibehält, vermisst Trude sexuelle Befriedigung. Zwar kommt es zu einer lange vermiedenen Aussprache über die Sinnlosigkeit dieser Ehe. Doch bleiben die eben noch Aufrichtigen ihrer Lebenslüge treu und sind bereit, auf der Party eines Freundes die Rollen glücklicher Eheleute weiterzuspielen.

Halbzeit. Roman, V 1960.
Der Aufstieg des Ich-Erzählers Anselm Kristlein führt vom Handelsvertreter über den Werbetexter zum Spezialisten für „künstliche Produktalterung“. Beruf und Privatleben dienen der Werbung: Kristlein muss andere zum Erwerb von Überflüssigem animieren, und er wirbt um Frauen, die ihm das Gefühl vermitteln, gebraucht zu werden, obwohl er sich selbst für überflüssig hält. Der Titel aus der Welt des Fußballs ist charakteristisch für Walsers Vorliebe für die Mehrdeutigkeit der Sprache. Er kennzeichnet den Roman als eine Zwischenbilanz zur Zeit des „Wirtschaftswunders“.

Das Einhorn. Roman, V 1966, Verf B. D. 1977 Peter Patzak.
Der Schauplatz wechselt von Stuttgart nach München. Anselm Kristlein übernimmt den Auftrag, ein Buch über die Liebe zu schreiben. Da ihm die eigene Ehe als Basis nicht ausreicht, die von der Verlegerin erwartete sexuelle Freizügigkeit in diesem „Sachbuch“ unterzubringen, „etwas Genaues“ zu beschreiben, macht sich Kristlein auf die Suche nach neuen Erfahrungen und scheitert. Das Fabeltier Einhorn dient als Sinnbild des Begehrens. Kristleins Metier gibt Gelegenheit zu Satiren auf den Kultur- und Literaturbetrieb: „Der Schriftsteller ein Fachmann für fast alles. Konnte er da zurückschreiben: Ich weiß es doch auch nicht! Oder fühlte er sich schon geschmeichelt, weil Leute glaubten, er wisse, wann die Wiedervereinigung fällig (…) sei?“

Der Sturz. Roman, V 1973, Verf B. D. 1978 Alf Brustellin.
Kristlein lebt im 3. Teil der Trilogie mit seiner Familie am Bodensee. Eine „Abwärtsbewegung“ mit abenteuerlichen Stationen mündet in die Vorstellung einer Flucht in den Süden; der Absturz mit dem Auto in den Alpen scheint Kristleins Ende zu bedeuten; der Roman lässt aber eine Zukunft für den opportunistischen Kleinbürger offen.

Ein fliehendes Pferd. Novelle, V 1978, Dramat 1985.
Der Stuttgarter Oberstudienrat Helmut Halm, ein Endvierziger, ist in eine Lebenskrise geraten. Die Beschränkung auf ein erlebnis- und gefühlsarmes Leben erscheint ihm als Schicksal und zugleich notwendige Überlebenshilfe. Während seines Urlaubs, den er wie schon seit Jahren mit seiner Frau Sabine am Bodensee verbringt, wird die resignative Selbstbegrenzung in Frage gestellt, und zwar durch Halms früheren Freund Klaus Buch und dessen attraktive Frau Helene. Beide sind der Inbegriff von sportlichem Lebenselan und erfolgsgewohnter Pragmatik. Aus den Kleinigkeiten des täglichen Urlaubsumgangs der beiden Paare entwickelt sich eine von Halm als gezielter Angriff empfundene Herausforderung („Die machten ihn fertig“). Zu Buchs Triumph gehört es, dass es ihm gelingt, ein fliehendes Pferd einzufangen. Schließlich entladen sich die in Halm aufgestauten Aggressionen: Bei einer Segelpartie stößt er Buch aus dem Boot. Doch selbst diese „Tat“ misslingt, Buch kann sich retten; Halm sieht sich in seinem Selbstverständnis als ewiger Verlierer bestätigt.
Im 7. der 9 Kapitel (Gespräch der beiden Ehepaare) deutet sich Walsers Parteinahme für den „Versager“ an: Klaus Buch zeigt sich „so glücklich zu sehen, dass Helmut kein Kleinbürger geworden sei“. Als mittelbare Replik folgt: „Helmut dachte: Wenn ich überhaupt etwas bin, dann ein Kleinbürger. Und wenn ich überhaupt auf etwas stolz bin, dann darauf.“ Klaus lenkt das Gespräch auf das Verhältnis zur Arbeit als Lebensinhalt kleinbürgerlicher Existenz und erklärt als selbstgefälliger Liebhaber, „Arbeit sei ein Ersatz für Erotik“. Buchs Frau Helene kommentiert spöttisch: „Er redet ein biss­chen viel darüber. Das ist aber sein einziger Fehler.“ Dieses Gespräch führen die vier am Abend vor der stürmischen Bootsfahrt der beiden Männer. Ihre Schilderung spiegelt die Sachkenntnis des leidenschaftlichen Seglers Walser.

Ein springender Brunnen. Roman, V 1998, auch als vom Autor gelesenes Hörbuch 1998.
Der nahezu einzige Schauplatz dieses Heimat-Romans über die Kindheit und Jugend des Protagonisten Johann ist Wasserburg am Bodensee, die Heimat Walsers, und wie dieser gehört Johann dem Jahrgang 1927 an. Der Handlungszeitraum reicht von 1932 bis 1945. Dennoch ist die Zeitgeschichte, die NS-Zeit, nur eines unter mehreren Themen und programmatisch beschränkt auf den Erfahrungsbereich des in der Provinz als Sohn einer Gastwirtin Heranwachsenden: Während der militärischen Ausbildung als Gebirgsjäger dichtet Johann; er hat Nietzsches Zarathustra bei sich, und er spürt „Zarathustra-Energie“. Bald darauf greift er zu Stifter.
Ein roter Faden des figuren- und episodenreichen Romans ist das Wesen der Sprache. Sie versagt, als der pubertierende Johann onaniert (er „sagte dabei innendrin irgendwelche Silben auf, die keinen Sinn ergaben, aber einen Takt“). Nach der ersten Nacht mit Lena „trug (ihn) etwas, was er noch nie erlebt hatte. Er nannte es nicht Glück. Er lehnte das Wort sogar ab. (…) Vielleicht war das Wort Erlösung dafür zu gebrauchen.“ Das Leitthema verdichtet sich gegen Ende: „Die Sprache, die er nach 1933 erlernt hatte, war, nach der Kirchensprache, die zweite Fremdsprache gewesen.“ Johann erkennt als unabdingbar: „Sich den Sätzen anvertrauen. Der Sprache.“ Die Metaphorik des Titels unterstreicht der letzte Satz: „Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen.“


Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009

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