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Weiss, Peter

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* 8. 11. 1916 in Nowawes bei Berlin
† 10. 5. 1982 in Stockholm


Als Beendigung des „Interregnums der Mittelmäßigkeit“ (Friedrich Luft) wurde 1964 die Uraufführung eines Dramas gefeiert, das zwei berüchtigte Gestalten der Geschichte (Marat und den Marquis de Sade) auf die Bühne brachte und als Diskussionsstück doch vor allem Theater zu sein schien, in dem sich die Extreme gegenseitig aufhoben. Vier Jahre später erwies sich Weiss durch seinen Diskurs über Viet Nam als Autor, der nichts weniger als „über den Dingen“ stand, sondern Partei im antiimperialistischen Kampf bezog und „die Grenzen des friedlichen Protestes erreicht“ sah (1967 in Che Guevara). Derselbe Aufsatz enthält das Bekenntnis: „Wir glauben an die eingeborene Kraft, die den Menschen dazu befähigt, seine Unterdrücker zu stürzen“.
Der Sohn eines jüd., zum Christentum konvertierten tschech. Textilfabrikanten und einer Schauspielerin wuchs in Berlin und Bremen auf. 1934 emigrierte die Familie über London nach Prag (hier besuchte Weiss 1936–38 die Kunstakademie) und 1939 über die Schweiz nach Schweden; 1945 erhielt er die schwed. Staatsbürgerschaft. Weiss arbeitete zunächst als bildender Künstler (1. Ausstellung in Stockholm 1940). 1947 und 1948 veröffentlichte er schwed. Prosagedichte, 1952–60 entstanden Experimental- und Dokumentarfilme (Aufsatz Avantgarde Film, schwed. 1956, dt. 1963). Als erster dt. Text erschien der „Mikro-Roman“ Der Schatten des Körpers des Kutschers (E 1952, Zs 1959, V 1960). Weiss behielt Stockholm als Wohnsitz bei.
Zu seinen Auszeichnungen gehören der Hamburger Lessing-Preis 1965, der Kölner (1981) und der Bremer Literaturpreis (1982) sowie der posthum verliehene Georg-Büchner-Preis 1982.
Als Dramatiker ist Weiss neben Hochhuth und Kipphardt der bedeutendste Vertreter des dokumentarischen Theaters. Die Ermittlung (U, V 1965) basiert auf dem Frankfurter Auschwitz-Prozess und verknüpft als stilisierendes „Oratorium“ (Lesung von Texten) die Verbrechen der Vergangenheit mit dem Verdrängungsprozess der Gegenwart. Der Diskurs über Viet Nam (U, V 1968) rafft 2000 Jahre vietnames. Geschichte von Unterdrückung und Widerstand bis zur Vorbereitung des amerikan. Eingreifens. Trotzki im Exil (Handlungszeitraum 1928–40, mit Rückblenden) setzt sich mit dem Konflikt zwischen Lenins Mitkämpfer Trotzki und Stalin auseinander (U, V 1971). Hölderlin greift Bertaux’ These vom „Jakobiner“ Hölderlin auf und enthält eine fiktive Begegnung zwischen dem in sein „großes Schweigen“ geflüchteten Dichter und Karl Marx (U, V 1971). Das 3-bändige Werk Ästhetik des Widerstands bildet eine imaginäre Rückschau als Suche nach der eigenen politisch-zeitgeschichtlichen Identität.

Romane: Fluchtpunkt (1962), Die Ästhetik des Widerstands (3 Bde., 1975–81). – Dramen: Nacht mit Gästen. Eine Moritat (U, V 1963), Gesang vom lusitanischen Popanz (U, V 1967), Die Versicherung (V 1967, U 1971), Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wurde (E ab 1963, U, V 1968), Der Prozess (nach Kafka, U, V 1975), Der neue Prozess (nach Kafka, U, V 1982). – Essays: Notwendige Entscheidung. 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt (1965), Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache (1965), Enzensberger Illusionen (1966), Slg. Rapporte (2 Bde., 1968 und 1971).

Das Theaterstück „Die Ermittlung“ von Peter Weiss hat den ersten Frankfurter Auschwitzprozess, der von 1963 bis 1965 stattfand, zum Gegenstand. Der Autor hat als Zuschauer selbst am Prozess teilgenommen. Die Uraufführung des dokumentarischen Dramas (vgl. dokumentarisches Theater, „Theater der Berichterstattung“) erfolgte im Oktober 1965 in Form einer Ringaufführung an 15 west- und ostdeutschen Theatern und an der Londoner Royal Shakespeare Company.
Der Untertitel des Dramas lautet „Oratorium in elf Gesängen“. Die elf Gesänge verfolgen das grausame Schicksal der Häftlinge von der Verladerampe in Auschwitz bis zum Feuerofen im KZ: 1. Gesang von der Rampe, 2. Gesang vom Lager, 3. Gesang von der Schaukel, 4. Gesang von der Möglichkeit des Überlebens, 5. Gesang vom Ende der Lili Tofler, 6. Gesang vom Unterscharführer Stark, 7. Gesang von der Schwarzen Wand, 8. Gesang vom Phenol, 9. Gesang vom Bunkerblock, 10. Gesang vom Zyklon B, 11. Gesang von den Feueröfen.
Aus „authentischem Material“ (Weiss), den Aussagen von Angeklagten und Zeugen, aus den Fragen und Antworten der Ankläger, Richter und Verteidiger versucht der Autor Peter Weiss eine (nicht-fiktionale) Realität zu rekonstruieren und diese somit fassbar zu machen bzw. der Öffentlichkeit vor Augen zu führen, die bereits 20 Jahre zurückliegt. Die im Stück auftretenden 18 Angeklagten (im eigentlichen Prozess sind es allerdings mehr) werden mit ihrem tatsächlichen Namen benannt; die Zeugen, im wirklichen Prozess über 300, werden durch insgesamt neun anonyme Stimmen vertreten. Mit der Anonymität der Zeugen in seinem Stück will Weiss daran erinnern, dass die Namen der Auschwitz-Opfer von den SS-KZ-Aufsehern bzw. durch die NS-Bürokratie in menschenverachtender Weise durch einfache Nummern ersetzt wurden. Als Zeugen treten nicht allein ehemalige Häftlinge auf, zwei stammen auch aus den Reihen der Angeklagten selbst.
Peter Weiss stellt die Aussagen der Täter durch eine entsprechende Montage mit den Berichten der Zeugen als das bloß, was sie sind, nämlich nichts als relativierende, verharmlosende Rechtfertigungen. Weiss geht es darum, deutlich zu machen, dass der Einzelne selbst unter den Bedingungen der Diktatur Verantwortung für andere trägt und dass sich niemand über einen etwaigen „Befehlsnotstand“ herausreden können sollte.


Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009