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Dürrenmatt, Friedrich

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* 5. 1. 1921 in Konolfingen (Kt. Bern)
† 14. 12. 1990 in Neuchâtel


Als Episode, die in die Theatergeschichte einging, wurde 1983 der Auftritt Dürrenmatts bei der Zürcher Uraufführung von Achterloo empfunden. Der Autor trat im weißen Kittel vor das Publikum und stammelte in der Art des zum Personal der Komödie zählenden Irrenarztes: „Ich habe dieses Stück im Auftrag der städt. Klinik geschrieben. Mein Name ist … Gotthelf … Gotthold … Ephraim … Lessing.“ Der moderne Aristophanes und Moralist bekundete im Rollenspiel seine Skepsis gegenüber der Tradition der Aufklärung.
Der Sohn eines Pfarrers besuchte in Bern das Gymnasium und studierte in Zürich und Bern Theologie, Literatur, Philosophie sowie Naturwissenschaften; zugleich verfolgte er das Ziel, Maler zu werden. Erste literarische Arbeiten (Erzählungen unter dem Einfluss Kafkas) entstanden Anfang der 40er Jahre; 1947 erregte das Wiedertäufer-Drama Es steht geschrieben einen Theaterskandal. Ab 1952 lebte Dürrenmatt in Neuchâtel. Ein Welterfolg wurde Der Besuch der alten Dame (1956). Stets eng mit der Theaterpraxis verbunden, war er 1968/69 in Basel Theaterdirektor.
Als Romancier und Erzähler bevorzugte Dürrenmatt das Genre der Detektivgeschichte, als Dramatiker die Form der Tragikomödie, verbunden mit Elementen der Satire und Farce, des schwarzen Humors und des Aberwitzes. Verfremdungseffekte sind äußerliche Entsprechungen zur Dramaturgie Brechts, dessen Forderung, die Welt als veränderbar darzustellen, Dürrenmatt, ebenso wie Frisch, als unrealistisch abgelehnt hat. Ein zentrales Thema seines Schaffens ist die Macht. Um ihretwillen weist Nebukadnezar die Liebe des von einem Engel auf die Erde gebrachten, dem niedrigsten Menschen zugedachten Mädchens Kurribi zurück (Ein Engel kommt nach Babylon); Abscheu vor der Macht verbindet den letzten weström. Kaiser und seinen Gegner Odoaker (Romulus der Große), die Macht des Geldes dient als tödliche Waffe (Der Besuch der alten Dame), die Erkenntnisse der Wissenschaft werden von der Politik zur Massenvernichtung und insofern als Machtmittel missbraucht (Die Physiker); auch in Achterloo, der grotesken Widerspiegelung der Entwicklung in Polen unmittelbar vor Verhängung des Kriegsrechts 1981, stehen Machtstrukturen im Mittelpunkt des von den Insassen eines Irrenhauses in historischen Kostümen nachgespielten aktuellen Geschehens. Als Sinnbild der Unfähigkeit des Menschen, sich aus den Verstrickungen des Lebens zu lösen, dient in Der Meteor das Lazarus-Motiv der Auferweckung bzw. des Nichtsterbenkönnens. 1986 erhielt Dürrenmatt den Georg-Büchner-Preis.

Romane: Der Verdacht (1953), Grieche sucht Griechin (1955, Verf B. D. 1966, Rolf Thiele), Der Tunnel (1964), Justiz (1985). – Erzählungen: Slg. Die Stadt (1952), Die Panne (1956), Der Sturz (1971). – Dramen: Es steht geschrieben (1947, Neufassung 1967 u. d. T. Die Wiedertäufer), Romulus der Große (1949), Die Ehe des Herrn Mississippi (1952, Verf B. D. 1961 Kurt Hoffmann), Ein Engel kommt nach Babylon (E ab 1948, U 1953), Frank der Fünfte. Oper einer Privatbank (1959, Musik Paul Burkhard), Der Meteor (1966), Der Mitmacher (1973), Die Frist (1976), Achterloo (1983). – Hörspiele: Herkules und der Stall des Augias (1954, als Drama 1963), Das Unternehmen der Wega (1955, als Drama Porträt eines Planeten 1970). – Essays: Slg. Theaterprobleme (1955), Slg. Theater-Schriften und Reden (2 Bde. 1966, 1972), Zusammenhänge. Essays über Israel (1976).

Der Richter und sein Henker. Roman, V 1952, als Hörspiel 1957, Verf B. D. 1978 Maximilian Schell.
Kommissar Bärlach von der Berner Kripo ist mit der Untersuchung der Ermordung seines Mitarbeiters Schmied beauftragt, der erschossen in seinem Auto aufgefunden worden ist; zu seiner Unterstützung lässt sich der schwer kranke Bärlach Schmieds Kollegen Tschanz zuweisen. Die Spuren deuten auf einen gewissen Gastmann, in dessen einsamer Villa Schmied mehrfach unter falschem Namen an Abendgesellschaften teilgenommen hat. Ein Gespräch zwischen Bärlach und Gastmann klärt darüber auf, dass beide vor 40 Jahren in der Türkei eine Wette abgeschlossen haben, die ihr weiteres Leben geprägt hat: Während Bärlach damals behauptete, ein Verbrechen zu begehen sei „eine Dummheit, weil es unmöglich sei, mit Menschen wie mit Schachfiguren zu operieren“, stellte Gastmann die These auf, „daß gerade die Verworrenheit der menschlichen Beziehungen es möglich mache, Verbrechen zu begehen, die nicht erkannt werden könnten“. Seitdem hat sich Bärlach zu einem der besten Kriminalisten, Gastmann zu einem souveränen Verbrecher entwickelt. Schmied diente Bärlach dazu, Belastungsmaterial gegen Gastmann zu sammeln.
Der Fall Schmied wird mit der Feststellung abgeschlossen, dass Gastmann Schmied umbringen ließ. In Wirklichkeit, so zeigt ein Gespräch zwischen Bärlach und Tschanz, ist Tschanz der Mörder Schmieds. Hierdurch wurde er zum Werkzeug Bärlachs: Tschanz musste den verdächtigen Gastmann töten, um die eigene Schuld zu verdecken, und diente hierdurch als „Henker“ im Auftrag des „Richters“ Bärlach.
Spannung entsteht durch Zuspitzung der psychologischen Dramatik: Der Leser erahnt Bärlachs Verdacht gegen Tschanz und verfolgt die Schachzüge des Alten, dessen Herz inmitten einer ebenso spießigen wie korrupten Umgebung „ein wütendes Feuer verzehrt“.

Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. Roman, V 1958.
Zugrunde liegt das Drehbuch zu Ladislao Vajdas Film Es geschah am helllichten Tage über das Thema Sexualverbrechen an Kindern. Dürrenmatt griff die Fabel aufs Neue auf. Aus einem bestimmten Fall wurde der Fall des Detektivs als Inbegriff des logisch handelnden und daher am Zufall scheiternden Menschen.
Dieser Fall wird am Beispiel des mit der Ermordung eines Mädchens konfrontierten Kommissars Dr. Matthäi ad absurdum geführt. Der Schuldige schien in Gestalt eines Hausierers rasch gefunden zu sein: Nach stundenlangen Verhören gestand er und erhängte sich in seiner Zelle. Matthäi, der den Eltern des Kindes das Versprechen gegeben hat, den Mörder ausfindig zu machen, ist davon überzeugt, dass sich der tatsächliche Täter noch in Freiheit befindet. Er quittiert seinen Polizeidienst und erschließt aus den wenigen Anhaltspunkten, die er besitzt, Person und Verhaltensweise des mutmaßlichen Mörders; als Lockvogel dient ihm ein Mädchen, das er mit seiner Mutter bei sich aufgenommen hat. Als alles darauf hindeutet, dass der Mörder „angebissen“ hat, kann Matthäi seinen ehemaligen Kommandanten dazu bewegen, eine entsprechende Aktion einzuleiten, die jedoch erfolglos verläuft. Matthäi erscheint als widerlegt und verkommt. Diese Geschichte wird dem Autor von jenem ehemaligen Vorgesetzten Matthäis erzählt, und zwar als Beispiel dafür, dass die wie eine „Rechnung“ angelegten Kriminal­romane nichts mit der Wirklichkeit gemeinsam haben. Zuletzt wird die „reichlich schäbige Pointe“ nachgetragen: Durch Zufall kam der Kommandant an das Sterbebett einer Frau und erfuhr, dass deren Mann der Täter war, den Matthäi hinter einer Reihe von Mordtaten an Mädchen vermutet hatte. Die Polizeiaktion war nur deshalb ein Misserfolg, weil der Mörder auf dem Weg zu der ihm gestellten Falle bei einem Autounfall ums Leben kam.

Der Besuch der alten Dame. Tragikomödie in 3 Akten, V, U 1956, Verf B. D./I/F 1963 Bernhard Wicki.
Die völlig verarmte Kleinstadt Güllen „irgendwo in Mitteleuropa“ erwartet Kläri Wäscher alias Claire Zachanassian. Sie hat vor 45 Jahren, gebrandmarkt als Mutter eines unehelichen Kindes, Güllen verlassen. Von einem Ölmagnaten aus dem Bordell geholt und zur dreifachen Milliardärin aufgestiegen, hat sie sich den Ruf einer großzügigen Wohltäterin erworben. Die Erwartungen scheinen sich zu erfüllen: Claire ist bereit, der Stadt eine Milliarde zu schenken; als Gegenleistung verlangt sie Gerechtigkeit, nämlich den Tod ihres Jugendgeliebten Alfred Ill, der sei­nerzeit mit Hilfe von zwei bestochenen Zeugen vor Gericht seine Vaterschaft an Kläris Kind bestreiten konnte. Die empörte Zurückweisung dieses Handels erlahmt nach und nach. Angesichts des greifbar nahen, irgendwie zu packenden Reichtums verfallen die Bewohner Güllens in einen Konsumrausch auf Pump und überzeugen sich, dass durchaus eine Verpflichtung besteht, das Kläri angetane Unrecht zu sühnen. Ill selbst entwickelt Schuldbewusstsein und gibt einen Fluchtversuch mehr oder weniger freiwillig auf. Allerdings weigert er sich, Selbstmord zu begehen. Die Mitbürger müssen ihn, um ihr Ziel zu erreichen, töten. Gegenüber den durch Claire angelockten Vertretern der Medien wird Ill in doppelsinniger Weise als der Mann ausgegeben, dem die (schließlich durch Gemeindebeschluss akzeptierte) Claire-Zachanassian-Stiftung zu verdanken ist. Als sich der um das Opfer geformte Kreis wieder öffnet und Ill tot am Boden liegt, stellt der Bürgermeister „Tod durch Freude“ fest und nimmt Claires Scheck entgegen.
Die „alte Dame“, die als „altes Götzenbild aus Stein“ den Schauplatz verlässt, und ihre Umgebung besitzen dämonisch-groteske Züge. Als Diener und Sänftenträger hat Claire zwei Schwerverbrecher engagiert, die „Kaugummi kauenden Monstren“ Toby und Roby. Zu ihrem Gefolge gehören als Koby und Loby jene meineidigen Zeugen, die sie ausfindig machte, blenden und kastrieren ließ, sowie als Butler der ehemalige Richter, der Ill von der Vaterschaft freigesprochen hat. Randfiguren sind Claires einander in rascher Folge ablösende Ehemänner VII–IX. Nach und nach enthüllt sich Claires planmäßige Vorbereitung ihrer Abrechnung mit Güllen: Der Vorschlag des Lehrers, ihr Geld doch lieber in die stillgelegten Betriebe der Stadt zu investieren und sich hierdurch „zur reinen Menschlichkeit“ durchzuringen, ist gegenstandslos, da Claire schon die gesamte Stadt gekauft und die Armut selbst herbeigeführt hat. Gegenüber Ill enthüllt sie das Kernmotiv ihres Handelns: „Deine Liebe ist gestorben vor vielen Jahren. Meine Liebe konnte nicht sterben. Aber auch nicht leben. Sie ist etwas Böses geworden (…), überwuchert von meinen goldenen Milliarden. Die haben nach dir gegriffen mit ihren Fangarmen, dein Leben zu suchen. Weil es mir gehört. Auf ewig.“
Die an den Bewohnern Güllens demonstrierte Käuflichkeit der Moral wird zwar auf die Armut zurückgeführt und insofern in einen gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt. Aber diese Erklärung nehmen die Güllener selbst vor, und zwar in der verfremdenden Form eines an­tikisierenden Chorgesangs, dem das 1. Standlied in Antigone von Sophokles zugrunde liegt: „Ungeheuer ist viel / Gewaltige Erdbeben / Feuer speiende Berge / Fluten des Mee­res / Krieg auch/Panzer durch Kornfelder rasselnd / Der sonnenhafte Pilz der Atombombe. / / Doch nichts ungeheurer als die / Armut / Die nämlich kennt kein Abenteuer / Trostlos umfängt sie das Menschengeschlecht / Reiht / Öde Tage an öden Tag.“ Im Nachwort verwahrt sich Dürrenmatt dagegen, mit dem Stück eine „Moral“ aufzustellen, „wie man mir bisweilen andichtet“; es wurde „geschrieben von einem, der sich von diesen Leuten durchaus nicht distanziert und der nicht so sicher ist, ob er anders handeln würde."

Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten, V 1963, U 1962, Neufassung 1980.
Die „Komödie in 2 Akten“ spielt im Salon des Sanatoriums „Les Cerisiers“, das von der verwachsenen Irrenärztin Dr. Mathilde von Zahnd geleitet wird. An den Salon grenzen die Zimmer dreier ehemaliger Physiker. Es sind dies: Beutler, der sich als Newton ausgibt, Ernesti, der sich für Einstein hält, und Möbius, der seine Eingebungen Salomo zu verdanken vorgibt.
Akt 1: Untersuchung des Leichnams der Pflegerin Straub; Ernesti hat sie erdrosselt und beruhigt sich durch Geigenspiel. Drei Monate zuvor hat Beutler die Pflegerin Moser umgebracht. Beide Mörder sind als Irre vor der Verhaftung geschützt, doch verlangt der Staatsanwalt, weiteren Gewalttaten durch den Austausch des weiblichen Personals gegen Pfleger vorzubeugen. Möbius erhält den Besuch seiner geschiedenen Frau und seiner drei Söhne; sie sind im Begriff, mit dem Missionar Rose zu den Marianen aufzubrechen. Möbius vertreibt die Gesellschaft mit dem „Psalm Salomos, den Weltraumfahrern zu singen“, der als Schreckensbild der Raumfahrt in die Verse mündet: „In den Fratzen kein Erinnern mehr/An die atmende Erde.“ Mit Schwester Monika allein gelassen, erfährt Möbius, dass sie ihn für einen Simulanten hält; sie liebt Möbius und hat alles für ein gemeinsames Leben außerhalb des Sanatoriums vorbereitet. Möbius sieht sich durchschaut und erdrosselt Monika.
Der 2. Akt beginnt wie der erste, wobei der Inspektor seinen Dank ausdrückt, auch Möbius nicht verhaften zu müssen: „Die Gerechtigkeit macht zum ersten Male Ferien, ein immenses Gefühl.“ Der Dienstantritt der Pfleger zwingt „Newton“ und "Einstein“ zum Handeln. Sie sind im Auftrag zweier gegnerischer Geheimdienste als angebliche Irre in das Sanatorium gelangt, um Möbius, dessen Genialität als Physiker die beiden Staaten auf die Spur gekommen sind, zu entführen. Ihre Mordtaten dienten dazu, der Enthüllung ihrer Identität zuvorzukommen. Möbius gibt zu, während seines 15-jährigen Aufenthalts im Sanatorium, durch den er seine Entdeckungen dem Zugriff entziehen wollte, das Problem der Gravitation gelöst, die einheitliche Theorie der Elementarteilchen aufgestellt und das System aller möglichen Erfindungen“ entwickelt zu haben; seine Manuskripte hat er verbrannt. Doch Dr. von Zahnd, die sich als wahnsinnig entpuppt, hat längst die Papiere kopiert und einen Trust gegründet; sie wird „die Länder, die Kontinente erobern, das Sonnensystem ausbeuten, nach den Andromedanebeln fahren. Die Rechnung ist aufgegangen. Nicht zugunsten der Welt, aber zugunsten einer alten, buckligen Jungfrau.“ Möbius erkennt: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“
In seinen 21 Punkten zu den Physikern stellt Dürrenmatt das Stück unter den Leitbegriff des Paradoxen, entsprechend der Einsicht, die sein Protagonist Möbius im Gespräch mit den enttarnten Fachkollegen formuliert: „Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnisse tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. (…) Entweder bleiben wir im Irrenhaus, oder die Welt wird eins. Entweder löschen wir uns im Gedächtnis der Menschen aus, oder die Menschheit erlischt.“ Die Entscheidung wird ohne ihr Zutun getroffen: Die drei Physiker bleiben gezwungenermaßen im Irrenhaus, während zugleich die „Welt in die Hände einer verrückten Irrenärztin“ fällt.
Diese „Lösung“ verdeutlicht, dass Die Physiker die Frage der Verantwortung des Wissenschaftlers weit weniger als etwa Brechts thematisch verwandtes „Leben des Galilei“ diskutieren, sondern vor allem Dürrenmatts dramaturgische Grundkonzeption realisieren, der zufolge eine „Geschichte dann zu Ende gedacht (ist), wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat“.


Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009