Lexikon
Kafka, Franz
Drucken* 3. 7. 1883 in Prag
† 3. 6. 1924 im Sanatorium Kierling bei Wien
„Kafkaesk“ dient seit den 1950er Jahren als Begriff für den Eindruck des Absurden, auf unerklärliche Weise Bedrohlichen, des auf groteske Weise Undurchschaubaren, den Kunst und Literatur, aber auch das persönliche Erlebnis einer ambivalenten Alltäglichkeit vermitteln. So vage die mit dem Namen Kafka verbundenen Assoziationen auch sein mögen – auch die Wissenschaft huldigt dem Kafkaesken: „Wie ein Fabeltier – unerreichbar, unfixierbar – taucht das Werk Franz Kafkas immer wieder aus dem Meer der Deutungen auf, die Wasser laufen wirkungslos ab, und es steht da wie zuvor: rätselhaft, anziehend, erschreckend, beschäftigend, bereit, neue Erklärungen zu zeugen und zu verschlingen“ (Günter Blöcker).
Aus einer jüd. Kaufmannsfamilie tschech. Herkunft stammend (der Vater war aus einem südböhm. Dorf nach Prag gezogen), besuchte Kafka ab 1893 das Prager dt. Gymnasium am Altstädter Ring, studierte ab 1901 an der Prager dt. Universität Jura (1902 Beginn der lebenslangen Freundschaft mit Brod) und promovierte 1906 zum Dr. jur.; nach einjähriger Gerichtspraxis wurde er Angestellter einer italien. Versicherungsgesellschaft, 1908 trat er als Beamter in die Prager „Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt“ ein (zugleich erste Publikation, 1910 Beginn der Tagebuchaufzeichnungen). Nach Ausbruch einer Kehlkopftuberkulose (1917) wurde Kafka vorzeitig pensioniert. Drei Verlobungen (1914 und 1917 mit Felice Bauer, 1919 mit Julie Wohryzek) folgten die Beziehung zu der tschech. Übersetzerin Milena Jesenská (Briefe an Milena 1920–22) und die Lebensgemeinschaft mit Dora Diamant 1923/24 in Berlin. Kafkas Verfügung, den gesamten Nachlass zu vernichten, leistete Brod nicht Folge und rettete hierdurch den Großteil des literarischen Werks (darunter die drei Romane). Einblick in die psychische Grundsituation Kafkas gibt der 1919 verfasste (jedoch nicht abgesandte) Brief an den Vater (V 1952), der von seinem Sohn eine Erklärung für dessen Furchtsamkeit verlangte. Selbstbezichtigungen des Versagens, etwa angesichts der vergeblichen „Anstrengungen des Heiraten-Wollens“, schlagen um in bittere Anklagen gegen den allmächtigen Patriarchen, die sich in dem Bild verdichten: „Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und dich quer über sie hingestreckt vor.“ Über den unbewältigten Vater-Sohn-Konflikt hinaus drückt dieses Bild die Ohnmacht des Künstlers aus: Kafka hegt die Vermutung, der Vater betrachte den Brief als bloße Literatur und könne „in letzter Instanz“ Recht behalten.
Romane: Amerika (ursprünglicher Titel Der Verschollene, Fragment, E ab 1912, Kapitel Der Heizer V 1913, V 1927, Dramat 1957 Max Brod). – Erzählungen: Betrachtung (V 1908), Beschreibung eines Kampfes (E 1904/05, Teil-V 1909 und 1913, V 1936), Ein Landarzt (E 1916/17, V 1918), Slg. Ein Landarzt (14 Parabeln und Erzählungen, u. a. Auf der Galerie, Vor dem Gesetz, Ein Bericht für eine Akademie, E ab 1914, V 1919), In der Strafkolonie (E 1914, V 1919), Ein Hungerkünstler (V 1922), Slg. Ein Hungerkünstler (4 Erzählungen, u. a. Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, E ab 1920, V 1924), Der Jäger Gracchus (E 1917, V 1931), Beim Bau der Chinesischen Mauer (Fragment, E 1918/19, V 1931), Forschungen eines Hundes (E 1922, V 1931). – Autobiografisches: Tagebücher (E 1910–23, Teil-V 1937, V 1951).
Das Urteil. Erzählung, E September 1912, V 1916.
Der junge und erfolgreiche Kaufmann Georg Bendmann, Geschäftsführer des väterlichen Betriebes, hat sich nach langem Zögern dazu durchgerungen, seinem glücklos in Russland tätigen Freund brieflich von seiner Verlobung mit einem wohlhabenden Fräulein zu berichten. Nun sucht er seinen verwitweten Vater in dessen Zimmer auf, in dem er „schon seit Monaten nicht gewesen“ ist, um beiläufig diesen Brief zu erwähnen. Der Anblick des hinfälligen Vaters rührt Georg, und er fasst den Vorsatz, mehr Sorgfalt aufzubringen.
Doch die Vater-Sohn-Beziehung erfährt eine urplötzliche Veränderung, ausgehend vom Zweifel des Alten an der Existenz jenes Freundes. Von Georg ins Bett gebracht und zugedeckt, erhebt sich der Vater als „Schreckbild“, preist den Freund als „Sohn“ nach seinem „Herzen“, unterstellt Georg ein obszönes Verhältnis zu seiner Braut, die er von Georgs Seite zu „fegen“ droht. Die Raserei des Vaters gipfelt in der Anklage der Ichbezogenheit: „Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wusstest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! – Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens.“ Georg fühlt sich „aus dem Zimmer gejagt“ und stürzt sich in den nahe gelegenen, zu Beginn der Erzählung vom Schreibtisch aus in seinem Blickfeld liegenden Fluss.
Indem Georg widerspruchslos das Urteil des Vaters akzeptiert, enthüllt sich blitzartig seine bisher verdeckte Abhängigkeit. Kennzeichnend für Kafkas Gestaltungsweise ist die Verschmelzung von Innen- und Außenwelt zu einer neuen erzählerischen Realität, die sich einer nachträglichen Trennung widersetzt. Thematisch (Vater-Sohn-Konflikt) knüpft die Erzählung an den Expressionismus an, gestalterisch weist sie (wie auch Die Verwandlung) auf den Surrealismus voraus.
Die Verwandlung. Erzählung, E November/Dezember 1912, V 1915.
Der Reisevertreter Gregor Samsa erwacht eines Morgens als „zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“. Dies ist, wie ausdrücklich betont wird, „kein Traum“. Vielmehr schildert die Erzählung detailgenau Gregors Mühe, den neuen Körper zu beherrschen, d. h. das Bett zu verlassen, den Raum zu durchqueren und die Türe zu öffnen. Die erste Begegnung mit den Familienangehörigen endet damit, dass Gregor brutal in sein Zimmer zurückgejagt wird. Nur die Schwester überwindet ihren Ekel; sie ist in den folgenden Tagen bemüht, ihn zu versorgen und erprobt die geeignete Kost.
Nach und nach ergeben sich einschneidende Veränderungen im Leben der übrigen Familie: Da der Sohn als Ernährer ausfällt, gehen die Eltern und die Schwester beruflichen Tätigkeiten nach, was vor allem beim Familienoberhaupt eine Verwandlung bewirkt: „(…) war das noch der Vater? Der gleiche Mann, der müde im Bett vergraben lag, wenn früher Gregor zu einer Geschäftsreise ausgerückt war (…)?“ Es kommt zur Konfrontation zwischen Vater und Sohn: „Er wusste wohl selbst nicht, was er vorhatte; immerhin hob er die Füße ungewöhnlich hoch, und Gregor staunte über die Riesenfüße seiner Schuhsohlen.“ Vom Vater mit Äpfeln bombardiert, flüchtet Gregor verletzt in sein Zimmer. Schließlich führt er durch die Verweigerung von Nahrung seinen Tod herbei, den die Eltern und die Schwester mit einem arbeitsfreien Tag und einer Fahrt ins Freie feiern.
Der Deutungsspielraum reicht von der Selbstvernichtung des Sohnes, der freiwillig dafür büßt, den Vater aus seiner beherrschenden Stellung gedrängt zu haben, bis hin zur Interpretation der Tiergestalt Gregors als Sinnbild seiner beruflichen Degradierung zum Arbeitstier; hierauf verweist der Prokurist, der an jenem Morgen der Verwandlung als Erster zur Stelle ist, um Gregor unter Drohungen an seine Pflichten zu mahnen.
Der Prozess. Roman (teilweise unausgeführt), E 1911/12–19, V 1925, Dramat 1947 André Gide und Jean-Louis Barrault (dt. U 1950), 1968 Jan Grossman, Vert 1953 Gottfried von Einem, 1966 u. d. T. The Visitation Gunther Schuller, Verf USA 1962 Orson Welles.
Der Bankprokurist K. wird „ohne dass er etwas Böses getan hätte, (…) eines Morgens verhaftet“. K. versucht, den Vorfall als „Spaß“ anzusehen, „als einen groben Spaß, den ihm aus unbekannten Gründen, vielleicht weil heute sein dreißigster Geburtstag war, die Kollegen in der Bank veranstaltet hatten“; zugleich will er, die „Komödie“ mitspielend, „sich irgendwie in die Gedanken der Wächter einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich bei ihnen einbürgern“.
Tatsächlich scheint es sich um ein Spiel zu handeln, denn K. bleibt trotz seiner Verhaftung in Freiheit, allerdings begleitet von einem sich nach und nach verstärkenden Rechtfertigungszwang und im Bewusstsein, dass der gegen ihn angestrengte Prozess seinen Verlauf nimmt. Einer Ladung des Gerichts folgend, gelangt er zu einem in der verwinkelten Vorstadt gelegenen Mietshaus und hier in einen mit lärmenden Menschen gefüllten Sitzungssaal; K. versucht, die „Sinnlosigkeit des Ganzen“ nachzuweisen. Als er das Haus erneut aufsucht, gelangt er zwar zu den auf dem Dachboden untergebrachten Gerichtskanzleien; das Resultat sind jedoch Verwirrung und Erschöpfung. Inzwischen nehmen andere Anteil an seinem Prozess, so sein Onkel, der ihm rät, seinen Schulfreund Huld mit der Verteidigung zu beauftragen. K. wird sich bewusst, dass er sich mitten in seinem Prozess befindet und gezwungen ist, sich zu wehren. Andererseits erhält er von einem „Gefängniskaplan“, dem er im Dom begegnet, die Beruhigung: „Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.“ Doch nach einjähriger Prozessdauer und ohne jemals seinen Richtern begegnet zu sein, wird K. von zwei Schergen abgeholt und in einem Steinbruch erstochen; die letzte Empfindung des Sterbenden ist Scham.
Die Versuche einer Entschlüsselung können sich teilweise auf biografische Fakten stützen, beispielsweise die erste Entlobung Kafkas (1914), die sich möglicherweise in dem schuldbehafteten erotischen Verhältnis zwischen K. und seiner Zimmernachbarin Fräulein Bürstner (im Manuskript mit den Initialen F. B. von Kafkas Braut Felice Bauer abgekürzt) spiegelt. Indem K. auf die sexuellen Wünsche einer Haushälterin eingeht, versäumt er es, einen womöglich hilfreichen hohen Gerichtsbeamten kennen zu lernen. Die Empfindung der Scham erweist sich unter diesem Gesichtspunkt als Reflex eines Schuldbewusstseins hinsichtlich der Beziehung zu Frauen; kurz vor K.s Hinrichtung bringt ihm Fräulein Bürstner sein mitmenschliches Versagen zum Bewusstsein und bricht damit seinen letzten Widerstand. An diese Teile der Handlung knüpft das Verständnis des Romans als Darstellung eines „Selbstgerichts“ an, während das Gericht aus religiöser Sicht als göttliche Instanz erscheint. Einen immanenten Interpretationsansatz enthält die Domszene, in der jener Geistliche die Parabel Vor dem Gesetz erzählt: Ein Mann vom Lande kommt zum „Gesetz“ und bittet den Türhüter um Einlass, der ihm grundsätzlich zugesagt wird, jedoch zu einem späteren Zeitpunkt. Der Mann lässt sich vertrösten. Obwohl er weiß, dass das Gesetz „doch jedem und immer zugänglich sein“ soll, wartet er Jahr um Jahr, bis sein Tod naht. Auf seine Frage, warum niemand außer ihm Zugang zum Gesetz erbeten hat, obwohl doch alle nach dem Gesetz streben, bekommt er zur Antwort: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. – Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ Einen Berührungspunkt zwischen Romanhandlung und Gleichnis bildet die Unterordnung unter eine subjektiv als unausweichlich erfahrene Autorität.
Das Schloss. Roman (Fragment), E 1922, V 1926, Dramat 1955 Max Brod, Verf B. D. 1969 Rudolf Noelte.
Der Landvermesser K. kommt an einem Winterabend in ein Dorf, das einem Schloss untersteht; als er versucht, dieses zu erreichen, wird er durch einen labyrinthischen Weg in die Irre und zum Ausgangspunkt zurückgeführt. Bei seiner Rückkehr ins Wirtshaus findet er zwei (allerdings des Landvermessens unkundige) Gehilfen vor, die ihm vom Schloss zugewiesen worden sind; eine briefliche Nachricht des Schlossbeamten Klamm enthält die Mitteilung seiner Aufnahme in „herrschaftliche Dienste“. Das mit Klamm liierte Schankmädchen Frieda wird K.s Geliebte; sie soll ihm Zugang zum Schloss verschaffen. Auch bei anderen Dorfbewohnern sucht K. Hilfe, so bei der verfemten Familie des Barnabas, dessen eine Schwester, Amalia, sich der Zudringlichkeit eines Schlossbeamten widersetzt hat, während sich ihre Schwester Olga zur Sühne regelmäßig den Schlossknechten hingibt. Offensichtlich hat K.s Anwesenheit die Beziehungen zwischen Schloss und Dorf verändert, erkennbar an den Komplikationen, die sich bei der Verteilung von Akten durch die Schlossdiener ergeben. Doch K.s Bemühungen um unmittelbaren Zugang zum geheimnisvollen Zentrum des Dorflebens, um Einsicht in die Zusammenhänge, erlahmen. „Über ihn hinweg gingen die Befehle, die ungünstigen und die günstigen, und auch die günstigsten hatten wohl einen letzten ungünstigen Kern. Jedenfalls aber gingen alle über ihn hinweg, und er war viel zu tief gestellt, um in sie einzugreifen oder gar sie verstummen zu machen und für seine Stimme Gehör zu bekommen.“ Der Roman bricht ab, nachdem K. zu einem Verhör ins Schloss beordert worden ist und er vergeblich versucht hat, Frieda zurückzugewinnen; an ihre Stelle tritt das Zimmermädchen Pepsi. Laut Brod sollte K. am Ende die Erlaubnis erhalten, sich als Landvermesser im Dorf niederzulassen, und zwar im Augenblick seines Todes.
Ähnlich wie Der Prozess besitzt Das Schloss einen zentralen und zugleich unzugänglichen Bezugspunkt der dargestellten Ereignisse. Wie jenes Gericht, so übt das Schloss einen Bann aus, dessen Wirkung an der jeweiligen Hauptfigur exemplifiziert wird. Indem diese hier wie dort neu in den Bannkreis tritt, knüpft sich an sie die Frage nach Aufhebung der bannenden Gewalt. Ihr sind alle anderen schon zum Opfer gefallen. Ein Beispiel ist die Familie des Barnabas, dessen Eltern an ihren nutzlosen Bittgängen mit dem Ziel, Verzeihung für Amalias „Vergehen“ zu erlangen, zugrunde gegangen sind. Eine andere Spiegelung der vom Schloss ausgehenden Gewalt sind die Schlossdiener, die sich im Dorf in ein „statt von den Gesetzen von ihren unersättlichen Trieben beherrschtes Volk“ verwandeln.
Die Deutungen dieses letzten Romans Kafkas sind in besonderem Maße kontrovers. Das religiöse Verständnis des Schlosses als Sinnbild des Orts der Gnade steht in schroffem Gegensatz zu einer gesellschaftskritischen Interpretationsweise, die das Schloss als Sinnbild der Unterdrückung durch Abhängigkeit, ja ganz konkret als Ausdrucksform der kapitalistischen Gesellschaftsordnung deutet.
Unter dieser Voraussetzung enthält der Roman einen „Hoffnungsschimmer“, indem das Schloss zwar aus der Ferne als „frei und unbekümmert“, aus der Nähe jedoch als hinfällig erscheint: „(…) der Anstrich war längst abgefallen und der Stein schien abzubröckeln.“ Ein dritter Interpretationsansatz verzichtet hier wie bei Kafkas Erzählweise insgesamt auf eine wie auch immer geartete inhaltliche „Übersetzung“ und betont stattdessen die Modernität der Erzählstruktur, die den Leser gleichsam in die Pflicht nimmt, sich „in den Text“ zu begeben und dessen Lücken, labyrinthische Irrwege, Kreisbewegungen und Widersprüche als das präzise Abbild der Realität wahrzunehmen bzw. sich „aktiv“ an der Durchdringung des die Protagonisten fesselnden Gespinstes zu beteiligen.
Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009