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Hölderlin, Friedrich

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* 20. 3. 1770 in Lauffen am Neckar
† 7. 6. 1843 in Tübingen


„Dem dt. Hölderlin-Bild“, schrieb 1966 der frz. Hölderlin-Forscher Pierre Bertaux, „das in ‚lieblicher Bläue blühet‘, fehlt eine Farbe: das Rote. Als ob die dt. Forschung rotblind wäre; oder vielleicht rotscheu.“ Mit seiner These vom „Jakobiner Hölderlin“, der (neben der Begegnung mit dem Griechentum und der Liebe zu Susette Gontard) entscheidend durch die Frz. Revolution geprägt worden sei, leitete Bertaux eine neue Phase der Hölderlin-Wirkungsgeschichte ein. Der „romantischen Legende seiner Umnachtung“ stellte Bertaux die Überzeugung entgegen, dass Hölderlin sich bewusst aus der ihm unerträglich gewordenen Gesellschaft zurückzog, ohne seine dichterische Schaffenskraft eingebüßt zu haben.
Als Hölderlins Berufsziel bestimmte seine verwitwete Mutter das Pfarramt. 1784 trat er in die ev. Klosterschule in Denkendorf ein, 1786 in das ev.-theologische Seminar im ehemaligen Kloster Maulbronn. Zu seinen bevorzugten Dichtern gehörten Schiller, Klopstock und Schubart; eine Auswahl der eigenen Gedichte stellte er am Ende der Maulbronner Schulzeit im sog. „Marbacher Quartheft“ zusammen. 1788–93 gehörte er als Theologiestudent dem Tübinger Stift an; Zimmergenossen waren Hegel und (ab 1790) Schelling. Die Frz. Revolution hatte eine Verschärfung des Stiftreglements zur Folge; Hegel galt als „derber Jakobiner“, und auch Hölderlin war „dieser Richtung zugetan“. 1790 besuchte er in Zürich Lavater, 1791 erschienen im „Musenalmanach“ des Stuttgarter Kaufmanns und Literaturförderers Stäudlin die Gedichte Hymne an die Freiheit, Hymne an die Muse, Hymne an die Göttin der Harmonie.
Ende 1793 trat Hölderlin in Waltershausen (bei Jena) im Haus Charlotte von Kalbs eine Stelle als Hofmeister an, die er Anfang 1795 aufgab; nach Aufenthalten in Weimar und Jena (Vorlesungen Fichtes) kehrte er nach Nürtingen zurück. 1796 wurde Hölderlin Hofmeister im Haus des Frankfurter Bankiers Gontard, mit dessen Frau Susette („Diotima“) ihn eine enge, von Heimlichkeit belastete Liebesbeziehung verband. 1798 des Hauses verwiesen, fand er bei seinem Freund (ab 1793) Isaak von Sinclair Unterkunft in Bad Homburg (Zusammenkünfte mit Susette). Die literarische Arbeit galt dem 1797 begonnenen Trauerspiel Der Tod des Empedokles (Titelgestalt ist der Philosoph, Arzt, Magier und Staatsmann Empedokles von Agrigent aus dem 5. Jh. v. Chr.; Thema ist die Aufhebung der Dissonanzen des Lebens durch den Opfertod). 1804 erschien die Übersetzung Trauerspiele des Sophokles (Antigone, König Oidipus); im selben Jahr erhielt Hölderlin eine Anstellung als Hofbibliothekar in Bad Homburg, die 1806 gekündigt wurde. Inzwischen hatte ein Hochverratsprozess gegen den „Jakobiner“ Sinclair stattgefunden; Hölderlin entging der Verhaftung durch die Fürsprache des hess. Landgrafen, der auf den „höchst traurigen Gemütszustand“ des Dichters verwies. Gewaltsam in die Authenriet’sche Klinik in Tübingen eingewiesen, wurde Hölderlin 1807 als unheilbar entlassen und lebte fortan in der Obhut der Familie des Schreinermeisters Zimmer im Tübinger „Hölderlinturm“ am Neckar. Das hier entstandene Spätwerk enthält zahlreiche Jahreszeiten-Gedichte.

Hyperion oder Der Eremit in Griechenland. Briefroman, E ab 1792, V 1797–99 (2 Bde.). Vorstufen: Fragment von Hyperion (V 1794).
Der Roman besteht nahezu ausschließlich aus Briefen Hyperions an seinen dt. Freund Bellarmin; eine Ausnahme bilden einige wenige zwischen Hyperion und Diotima gewechselte Briefe, die der Freund in einer Abschrift erhält. Anders als etwa Goethes Werther, dessen Briefe Schritt für Schritt den Gang der Handlung und die seelische Entwicklung des Schreibers widerspiegeln, schildert Hyperion sein Leben aus der Rückschau, d. h. reflektierend. Diese Form der Darstellung entspricht dem zentralen Thema der Rückerinnerung an eine Daseinsform ursprünglicher Einheit (Kindheit), deren Erneuerung (angedeutet im seelischen Einklang mit der Natur) in der Zukunft liegt.
Hyperion ist auf der Kykladen-Insel Tina aufgewachsen; hier führt ihn sein Lehrmeister Adamas in die antike Mythologie und Geschichte seines griech. Heimatlandes ein. In Smyrna lernt er die „schale Kost des gewohnten Umgangs“ kennen, Alabanda wird ihm zum Seelenfreund, durch Diotima findet er das höchste Liebesglück, nämlich die Ahnung des „Eins und Alles“: „Oh ihr, die ihr das Höchste und Beste sucht, in der Tiefe des Wissens, im Getümmel des Handelns, im Dunkel der Vergangenheit, im Labyrinthe der Zukunft, in den Gräbern oder über den Sternen! wisst ihr seinen Namen? den Namen des, des Eins und Alles? Sein Name ist Schönheit.“ Der gemeinsame Besuch der Stadt Athen weckt die Gewissheit, dass sich die Menschheit verjüngen wird; Diotima sieht in Hyperion den zukünftigen „Erzieher unsers Volks“, er steht inmitten der Trümmer des antiken Athen „wie der Ackersmann auf dem Brachfeld“ (Ende von Bd. 1). Zum Handeln wird Hyperion durch Alabanda aufgerufen: Russland hat das Signal zur Befreiung Griechenlands von der türk. Oberherrschaft gegeben (1770). Bald tritt jedoch tiefe Enttäuschung ein: „Es ist aus, Diotima! unsre Leute haben geplündert, gemordet, ohne Unterschied (…) In der Tat! es war ein außerordentliches Projekt, durch eine Räuberbande mein Elysium zu pflanzen.“ In einem Seegefecht sucht Hyperion den Tod, wird jedoch nur verwundet. Nach seiner Genesung erhält er den Abschiedsbrief Diotimas, den sie kurz vor ihrem Tod geschrieben hat. Hyperion verlässt Griechenland und kommt „unter die Deutschen“, demütig wie der „heimatlose, blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten – "Wie anders ging es mir! Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgearbeitete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes – das, mein Bellarmin! waren meine Tröster“ (Beginn der sog. „Scheltrede“). Was Hyperion jedoch zunächst von der Heimkehr abhält, ist der „himmlische Frühling“, er „war die einzige Freude, die mir übrig war, er war ja meine letzte Liebe (…)“.
Der bekenntnishafte Entwicklungsroman bezeugt Hölderlins Streben nach Vergegenwärtigung der griech. Antike im geschichtsphilosophischen Sinne – eine Perspektive, die zur radikalen Kritik an den zeitgeschichtlichen Verhältnissen führt; so spiegelt etwa Hyperions Enttäuschung über den Verlauf des aus seiner Sicht von der Antike inspirierten griech. Freiheitskampfs die Kritik am Verlauf der Frz. Revolution wider. Die reinste Form der Vermittlung zwischen Vergangenheit und erhoffter zukünftiger Harmonie verkörpert die in mythisches Licht getauchte Diotima-Gestalt; ihrem innersten Wesen weiß sich Hyperion im Frühlingserlebnis verbunden: „Auch wir sind nicht geschieden, Diotima, (…). Lebendige Töne sind wir, stimmen zusammen in deinem Wohllaut, Natur!“

Lyrik. V ab 1791, z. T. erst im 20. Jh. (Wie wenn am Feiertage 1910, Friedensfeier 1954), einzige Slg. zu Lebzeiten 1826, Vert Johannes Brahms (Schicksalslied aus Hyperion, Chor und Orchester, op. 54, 1871), Hermann Reutter (Drei Gesänge, op. 56: An die Parzen, Hälfte des Lebens, Abendfantasie (1943); Lieder nach Hölderlin, op. 67 (1947)), Wolfgang Fortner („Hyperions Schicksalslied“, 1940).
Das sog. „Älteste Systemprogramm des Idealismus“ (vermutlich ein Gemeinschaftswerk Hölderlins, Hegels und Schellings aus dem Jahr 1796) enthält die Erwartung, dass die Poesie „am Ende wieder (wird), was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben“. Damit ist ein wesentlicher Bezugsrahmen der Lyrik Hölderlins angedeutet: Das dichterische Sprechen, seine Verse und Bilder weisen über die Gegenwart hinaus und nehmen eine neue „Volkstümlichkeit“ vorweg im Dienst einer (wie es ebenfalls im „Systemprogramm“ heißt) „sinnlichen Religion“; Gleiches gilt für die Philosophie: „Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse (…).“
Das Ziel der Vereinigung der scheinbaren Gegensätze (Sinnlichkeit und Religion, Ästhetik und Philosophie) liegt den vielfältigen Formen der Verknüpfung unterschiedlicher Gegenstandsbereiche zugrunde. So schweifen etwa die Erinnerungen an den heimatlichen Neckar als Schauplatz der Kindheit ab zu antiken Schauplätzen: „Zu euch, ihr Inseln! bringt mich vielleicht, zu euch / Mein Schutzgott einst; doch weicht mir aus treuem Sinn / Auch da mein Neckar nicht mit seinen / Lieblichen Wiesen und Uferweiden“ (Der Neckar). Weitere Stromgedichte sind Der Main, Der Rhein, Am Quell der Donau; eine Stadtlandschaft schildert die an der „Vaterlandsstädte ländlichschönste“ gerichtete Ode Heidelberg (mit dem Bild der „schicksalskundigen Burg“).
Die Elegie Brot und Wein erinnert an die heidnische Grundlage der Eucharistie-Symbolik: „Brot ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte gesegnet,/ Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins. / Darum denken wir auch dabei der Himmlischen, die sonst / Da gewesen und die kehren in richtiger Zeit, / Darum singen sie auch mit Ernst, die Sänger, den Weingott / Und nicht eitel erdacht tönet dem Alten das Lob.“
Vielfach besitzt das Streben nach Synthese die Form der antithetischen Gegenüberstellung, etwa in Hälfte des Lebens durch den Kontrast von erster und zweiter Strophe, von sanfter Melodik im Bild der „holden Schwäne“ („Und trunken von Küssen / Tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser“) und greller Disharmonie: „(…) Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen.“ Die Kühnheit solcher Vorstellungsbilder, die den sinnlichen Eindruck radikal steigern (klirrende Fahnen), weist auf den Expressionismus voraus.
Seine frühen Vorbilder fand Hölderlin in den Hymnen Schillers und den Oden Klopstocks, vor allem aber in der griech. Lyrik selbst. Zu den um 1800 entstandenen Übersetzungen gehören etwa 20 Oden Pindars. Keimzellen der nach 1800 sich entfaltenden Odendichtung sind die sog. „epigrammatischen Oden“ des Jahres 1798. Zu ihnen gehört die frühe Diotima-Dichtung als unmittelbarer Empfindungsausdruck der Liebe zu Susette Gontard: „O vergiss es, vergib! gleich dem Gewölk dort / Vor dem friedlichen Mond, geh ich dahin, und du / Ruhst und glänzest in deiner / Schöne wieder, du süßes Licht!“ (Abbitte). Zu den Vaterländischen Gesängen (die nichts mit Patriotismus im nationalen Sinne zu tun haben) gehört der Gesang des Deutschen („O heilig Herz der Völker“), in dem Hölderlin seine Beziehung zum Heimatland mit den Versen ausdrückt: „Du Land des hohen ernsteren Genius! / Du Land der Liebe! Bin ich der deine schon, / Oft zürnt ich weinend, dass du immer / Blöde die eigne Seele leugnest.“


Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009