Infoblatt Industrialisierungsstrategien


Klassische Industrialisierungsstrategien und damit verbundene Probleme

Als Industrialisierungsstrategien werden Konzepte verstanden, mit denen die Industrialisierung eines Landes oder Raumes umgesetzt werden kann. Welche Industrialisierungsstrategie angewandt werden kann, hängt von der jeweiligen Gebietseinheit ab. Zum einen muss beachtet werden, wie weit die Region bereits wirtschaftlich entwickelt ist und zum anderen, welche Ressourcen vorhanden sind. Die klassischen Industrialisierungsstrategien, die vor allem in Entwicklungsländern Anwendung fanden, sind Importsubstitution, Exportsubstitution, Exportorientierung und Exportdiversifizierung.


Importsubstitution

Das Ziel dieser Industrialisierungsstrategie ist die Importe durch eigene Industrieprodukte zu ersetzen (Substitution = Ersetzen). Zwei Aspekte stehen hierbei im Vordergrund. Eigene Industrien sollen aufgebaut werden, um bisher importierte Güter nun auf Produktionsanlagen im Lande herzustellen. Dazu zählt auch die Diversifizierung (Vielfalt) der Produktionsstruktur. Dadurch entstehen Beschäftigungsmöglichkeiten und Kaufkraft. Der zweite Aspekt ist die Ersparnis von Devisen. In Zukunft benötigen die Entwicklungsländer weniger Ausgaben der knappen Devisen für den Import. Mit der Importsubstitution sollen die Beschäftigung, das Bruttoinlandsprodukt und die Außenhandelsbilanz gesteigert werden. Zahlreiche Maßnahmen wie die Erhöhung von (Schutz-)Zöllen und Abgaben, die Subventionierung des Aufbaus inländischer Produktionsstrukturen, die Überbewertung der nationalen Währung, Devisenkontrollen und staatliche Regulierung dienen der Umsetzung. Welche Güter können aber substituiert werden? Die Auswahlkriterien richten sich nach den jeweiligen Rahmenbedingungen vor Ort. So sind die Größe und Struktur der Nachfrage, Schwierigkeitsgrad der Herstellung, Größe des Marktes und die Dauer des Lernprozesses ausschlaggebend für die Umsetzung der Importsubstitution. Hauptsächlich sind Industrieprodukte geeignet, aber auch agrarische Erzeugnisse können mit einbezogen werden.
Viele Entwicklungsländer hatten bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine von Industriegütern geprägte Importstruktur. Vor allem im asiatischen Raum wurde die Strategie der Importsubstitution praktiziert. Nach Umsetzung dieser Methode und der Diversifizierung der Produktionsstruktur, sollte in einer späteren Phase die Politik die Exportdiversifizierung anschließen. In vielen Ländern schlugen diese Strategien, abgesehen von kurzfristigen Erfolgen, allerdings fehl. Viele sich entwickelnde Volkswirtschaften waren für ein dauerhaftes Anwachsen der Binnenmärkte zu klein. Die Importbeschränkungen im Konsum- und Industriegüterbereich bewirkten zunächst überhöhte Verbraucherpreise. Auch führt das Ziel des Aufbaus eines kapitalintensiv produzierenden "modernen" Sektors zu hohen zusätzlichen Importen an Kapitalgütern, was wiederum die Devisenproblematik verschärft. Deshalb ist die einseitige Binnenmarktorientierung und Regulierung der Industrieproduktion einer Strategie der Weltmarktöffnung und Deregulierung gewichen.


Exportsubstitution

Dieser entwicklungspolitische Ansatz eignet sich vor allem für Länder, die bisher in großem Umfang un- oder nur wenig verarbeitete Rohstoffe exportiert haben. So sollen die bisher für den Export bestimmten agrarischen, forstwirtschaftlichen oder mineralischen Rohstoffe (z. B. Rohzucker, Rohbaumwolle) dazu verwendet werden, um im eigenen Land auf der Basis dieser Erzeugnisse eine Industrie aufzubauen. Daraus können eine höhere inländische Wertschöpfung und Beschäftigung resultieren.


Exportdiversifizierung

In einer zweiten Phase der Industrieentwicklung folgt der Exportorientierung die exportdiversifizierende Industrialisierungsstrategie. Dabei wird versucht, die Produktpalette zu erweitern und eine größere Zahl von Abnehmern und Abnehmerländern für die eigene Produktion zu finden. Dies führt dazu, dass die Wirtschaft des jeweiligen Landes nicht mehr in dem Maße von den Weltmarktpreisschwankungen eines Produkts oder weniger Güter abhängig ist. Voraussetzung für diesen Ansatz ist i. d. R. eine exportorientierte Industrialisierung, die eine verstärkte Weltmarktintegration mit einer Importsubstitution verbindet. Exportdiversifizierung und Importsubstitution bilden also gegensätzliche Bestandteile eines wachstumsorientierten Aufbaus der nationalen Wirtschaft. Für das Erreichen einer breiten Exportpalette können als Instrumente Steuervergünstigungen für Exporte, Zinssubventionen für Exportkredite und Abbau produktionshemmender Importbeschränkungen eingesetzt werden. Für die Diversifizierung sind Produkte der Landwirtschaft (z. B. Öl, Kaffee, Zucker), der Industrie (v. a. arbeitsintensive Erzeugnisse) und des Tourismus (natürliche Standortvorteile) geeignet.


Probleme und Kritik

Die Vorgehensweise bei nachhaltigen Industrialisierungen in außereuropäischen Regionen erwies sich als äußerst schwierig. Die technologische Überlegenheit der fortgeschrittenen Industriestaaten erforderte einen ausgeprägten Protektionismus in den Entwicklungsländern. Dadurch wurden Exporte, die bekanntlich für die Industrielle Revolution in England eine wichtige Rolle gespielt hatten, wesentlich schwieriger. Nach der Phase der Importsubstitution schien es, dass sich die Industrialisierung nur mittels zunehmend komplexerer und kapitalintensiverer Aktivitäten weiter vorantreiben ließe. Einigen wenigen Ländern (v. a. in Südostasien) gelang es trotz der vielfältigen Schwierigkeiten seit den frühen 1960er Jahren in großem Maßstab für den Export zu produzieren. Ohne die vorgelagerten Erfolge der Importsubstitution wäre diese Entwicklung wohl kaum zustande gekommen. Es wird aber auch eine relativ vorteilhafte Entwicklung der Weltwirtschaft im entsprechenden Zeitraum vorausgesetzt. So wie die Weltwirtschaftskrise weltweit Importsubstitutionsanstrengungen förderte, so begünstigte die Expansion der Weltwirtschaft in der Nachkriegszeit Nischenstrategien der exportorientierten Industrialisierung. Die Fortschritte der heutigen Schwellenländer (z. B. Mexiko, Brasilien, Südkorea) beruhten teilweise auf beachtlichen Diversifizierungserfolgen, dem Einsatz verbesserter Technologien und neuen Organisationsformen. Teilweise kamen wohl auch die Auslagerung von Fabriken aus den Hochlohnregionen sowie der Ersatz fordistischer Produktionsformen durch das System flexibler Spezialisierung den Ländern der "Dritten Welt" zugute. Durch die Industrialisierungserfolge schien es zu einer neuen internationalen Arbeitsteilung zu kommen. In den 1990er Jahren wurden aber viele Entwicklungsländer enttäuscht. Die Entwicklungspfade einzelner Länder und Kontinente haben sich trotz Globalisierungsprozesse in den letzten Jahren eher auseinander, denn aufeinander zu entwickelt. Alle Entwicklungsstrategien haben verschiedene Erfolge und Schwächen vorzuweisen. Es zeigt sich jedoch, dass erfolgreiche Strategien keinem allgemeingültigen wirtschaftspolitischen Rezept folgen, sondern entsprechende Maßnahmen zur rechten Zeit am richtigen Ort angewandt werden müssen.


Quelle: Geographie Infothek
Autor: Mirko Ellrich
Verlag: Klett
Ort: Leipzig
Quellendatum: 2012
Seite: www.klett.de
Bearbeitungsdatum: 21.05.2012