Infoblatt Chemiedreieck Mitteldeutschland


Wirtschaftliche Bedeutung des Chemiedreiecks und die Bildung von Chemieparks



Firmenwegweiser Chemiepark Bitterfeld (Jens Joachim)


Die deutsche Chemieindustrie im Überblick

Die chemische Industrie ist ein Wirtschaftszweig des Verarbeitenden Gewerbes. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Wirtschaftszweig zu einer eigenständigen Industrie. Besonders in der Bundesrepublik Deutschland hat die chemische Industrie einen hohen Stellenwert, was sich durch die beträchtliche Zahl an Beschäftigten und Höhe der Umsätze ablesen lässt. So ist die deutsche Chemieindustrie Umsatz-Europameister und weltweit auf Platz vier. Es werden hierzulande rund 428.000 Menschen in der chemischen Industrie beschäftigt, hinzu kommen noch einmal etwa 20.000 Auszubildende. Damit ist die Branche nach dem Maschinenbau, Elektro- und Autoindustrie sowie der Herstellung von Metallerzeugnissen und der Ernährungsindustrie der sechstgrößte Arbeitgeber. Insgesamt gibt es bundesweit ungefähr 2.000 Chemiefirmen. Die bekanntesten Unternehmen sind Bayer und BASF, die ihre Stammsitze am Rhein haben.
Insgesamt vertreten die chemischen Unternehmen etwa ein Zehntel der deutschen Industrie: Sie erwirtschaften rund zehn Prozent des gesamten Industrieumsatzes, stellen fast ein Zehntel aller Industriearbeitsplätze und zahlen rund zehn Prozent der industriellen Entgeltsumme.


Wirtschaftliche Bedeutung des Chemiedreieckes

Die bundesweit höchsten Umsätze in der chemischen Industrie werden in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hessen erzielt. Der Rhein bildet quasi das Rückgrat für den chemischen Industriezweig. Ein weiteres traditionelles Zentrum der Chemie ist das Chemiedreieck Mitteldeutschland in Sachsen-Anhalt. Gemessen am Umsatz liegt die chemische Industrie von Mitteldeutschland an siebter Stelle nach Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen. Vor allem in der ostdeutschen Chemie spielt die mitteldeutsche Chemie innerhalb der Region um Bitterfeld-Wolfen, Schkopau-Böhlen, Leuna, Piesteritz und Zeitz eine herausragende Rolle. Etwa ein Drittel des ostdeutschen Chemie-Umsatzes wird in dem sachsen-anhaltinischen Chemie-Zentrum getätigt. Nach der Nahrungsmittelindustrie ist die chemische Industrie somit der zweitwichtigste Zweig des Verarbeitenden Gewerbes für Sachsen-Anhalt. Das Chemiedreieck entwickelt sich zum Motor der Wirtschaftsentwicklung in Sachsen-Anhalt mit Ausstrahlungseffekten innerhalb und außerhalb der Wirtschaftsregion. Mittlerweile arbeiten hier wieder knapp 15.000 Beschäftigte in der chemischen Industrie.


Die Geschichte des Chemiedreiecks

Was sich zu einer erneuten wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte entwickelt, hat bereits eine lange Tradition. Die Geschichte des Chemiedreieckes begann vor 150 Jahren in den Anfängen der Industrialisierung. Die reichhaltigen Rohstoffvorkommen von Braunkohle, Stein- und Kalisalz begünstigten die in der Region produzierenden Familien- und Handwerksbetriebe. Die aufkeimende Textilindustrie benötigte Bleichmittel und Farbstoffe, die aus Soda hergestellt wurden. Neue Verfahren ermöglichten eine künstliche Herstellung von Soda, welche einst nur aus seltenen Soda-Seen teuer gewonnen werden konnte. Der wachsende Maschinenbau erforderte zudem Rostschutz- und Schmiermittel. Vor der Jahrhundertwende stießen die Großchemieanlagen im Rhein-Main-Gebiet und Berlin an ihre Grenzen. Es fehlte an entsprechenden Flächen und die Umweltrichtlinien waren restriktiv. Der Raum um Halle, Leipzig und Dessau bot sich als günstige Alternative an. Der Boden war preiswert und Braunkohle reichlich vorhanden. So siedelten sich immer mehr Chemieunternehmen in Mitteldeutschland an. Von der AG Anilinfabrikation (Agfa) wurde der Bau einer Farbenfabrik in Wolfen beschlossen. Ab 1910 wurden hier die ersten Schwarzweißfilme produziert.
Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzte die nationale Wirtschaftspolitik die Chemieautarkie als Ziel fest. So entstand in Leuna die größte Chemiefabrik Europas, um hier die damals giftigste Waffe der Welt, das Giftgas Phosgen, herzustellen. Auch unter der nationalsozialistischen Diktatur war die wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Ausland ein wichtiges Ziel. Alle aus dem Ausland eingeführten Rohstoffe sollten künstlich und massenhaft produziert werden (z. B. Benzin). Das Chemiedreieck wurde zum "Ruhrgebiet Mitteldeutschlands", in dem 1939 jeder vierte deutsche Chemiearbeiter tätig war.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches war ein Drittel der Produktionsanlagen zerstört.
Durch die Kriegsschäden und die Reparationsleistungen an die Sowjetunion begann die Chemieindustrie Mitteldeutschlands nach dem Krieg nahezu bei Null. Mit erheblichen Mitteln versuchte die ehemalige DDR die Chemieautarkie wieder herzustellen. Die Anstrengungen waren erfolgreich, so kamen rund zehn Prozent des gesamten Industrieproduktionswertes aus dem Chemiedreieck. Jeder zweite Arbeitsplatz in der Region war mit der Chemie verbunden. Problematisch erwies sich das hohe Alter vieler Produktionsanlagen, die oftmals länger als 50 Jahre in Betrieb waren. Es gab kaum Modernisierungen.
Nach der politische Wende und Einführung der DM im Jahr 1990 fielen die alten Handelsstrukturen mit den Ostblockländern in sich zusammen. Die verschlissenen Produktionsanlagen und die wegbrechenden Absatzmärkte verursachten schließlich einen Kollaps des Chemiestandortes. Zahlreiche Betriebe mussten bereits 1990 schließen. Trotzdem sollte das Chemiedreieck als Standort der Großchemie erhalten werden. Zunächst war geplant, den Standort insgesamt zu privatisieren. Doch es wurde kein Investor gefunden, der in die überalterten Anlagen und defizitäre Infrastruktur investieren wollte. Deshalb wurde die Teilprivatisierung der Einzelstandorte wie Bitterfeld-Wolfen (Chlorchemie), Buna (Kunststoffproduktion) oder Leuna (Erdölverarbeitung) beschlossen. Das Chemieparkkonzept erwies sich hierbei als erfolgreich. Mehr als 100 traditionelle und auch junge Unternehmen siedelten sich im mitteldeutschen Chemiedreieck an. Begünstigt wurden die Entscheidungen nicht zuletzt durch die hohen Subventionen.


Das Chemieparkkonzept

Als problematisch erwies sich bei der Privatisierung nach 1990 die komplexe Struktur des Chemiedreieckes. Jeder Betrieb eines Standortes war mehr oder weniger direkt mit anderen Betriebsstätten verbunden. Außerdem waren die Standorte auch untereinander vernetzt. Die räumliche Nähe begünstigte die Minimierung von Transporten mit gefährlichen Substanzen. Darüber hinaus konnten die bei der Produktion entstehenden Nebenprodukte in einem anderen Betrieb als Rohstoff weiterverarbeitet werden. Wird ein Betrieb geschlossen, so könnte das eine Kettenreaktion auslösen. Andere Betrieb könnten nicht mehr privatisiert werden und neue würden sich gar nicht erst ansiedeln. Deshalb wurde beschlossen, Dienstleistungen wie Energieversorgung, Klärwerksbetrieb, Wasser- und Abwasserversorgung, Werksschutz und Feuerwehr aus den einzelnen Betrieben herauszulösen und einem Chemieparkbetreiber in Obhut zu geben. Gleichzeitig sollten die Hauptaktivitäten der Chemieproduktion an den Standorten erhalten bleiben. Diese gewagte Strategie ging größtenteils auf. Global Player der Chemie wie Bayer (BRD) und Dow (USA) investierten in Produktionsanlagen im Chemiepark. Mehr als drei Milliarden Aspirin-Tabletten verlassen jedes Jahr die Bayer-Anlagen in Bitterfeld. Das Unternehmen Dow produziert beispielsweise PET-Granulat, welches von einem Unternehmen in der Nachbarschaft zu Vorformen von Getränkeflaschen benötigt wird. So siedelten sich zahlreiche kleinere und mittlere Unternehmen im Umfeld des Chemieparks an. Auf einer Fläche von 1200 Hektar haben sich mittlerweile rund 360 Firmen angesiedelt und zunehmend ausländische Unternehmen interessieren sich für den Standort. Als Kernkompetenz gilt gegenwärtig der Bereich "Fein- und Spezialchemikaliensynthese".
Zwar konnte nicht an allen Standorten die Kernproduktion erhalten werden, wie etwa die Filmproduktion in Wolfen ("Orwo"), aber das Chemieparkkonzept entwickelte sich zum Vorbild. Zahlreiche traditionelle Chemie-Standorte wandelten ihre Gelände in Chemieparks um. Zum Beispiel unternahm die Hüls AG (heute Degussa-Hüls AG) 1998 diesen Schritt. Über 40 Chemieparks oder chemieparkähnliche Standorte gibt es mittlerweile in Deutschland.


Quelle: Geographie Infothek
Autor: Mirko Ellrich
Verlag: Klett
Ort: Leipzig
Quellendatum: 2012
Seite: www.klett.de
Bearbeitungsdatum: 02.04.2012