Infoblatt Räumliche Disparitäten


Entstehung und Abbau räumlicher Ungleichheiten

Zentrale Ausgangspunkte für die Wirtschaftsgeographie sind die unausgeglichenen Raumstrukturen und Raumungleichgewichte. Die Unausgeglichenheit der Raumstrukturen in einer oder mehreren Regionen wird als räumliche Disparität bezeichnet. Unterschiedlich können z. B. die räumliche Verteilung der Rohstoffe, Industrien, Bevölkerung und Städte sein. Die Folgen solcher Disparitäten können regionale Wohlfahrtsunterschiede, regionale Unterschiede der Erwerbsmöglichkeiten oder regionale Arbeitslosigkeit sein. Auch die wirtschaftlichen Aktivitäten sind in Art und Konzentration ungleich. Auf verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen können dabei die Ungleichheiten wirken. Sie können in der Bundesrepublik Deutschland z. B. als Nord-Süd- oder Ost-West-Unterschied auftreten. Genauso bestehen auch Disparitäten zwischen Stadt und Land in Industrie- oder Entwicklungsländer. Weltweit treten beispielsweise Zentrum-Peripherie-Gegensätze in Erscheinung. Alles in allem sind weltweit Ballungs- und Entleerungsprozesse in unterschiedlichen räumlichen Dimensionen zu beobachten.


Entstehung von Disparitäten

Die Entstehung von räumlichen Disparitäten lässt sich am Beispiel des Gegensatzes von Stadt und Land treffend nachvollziehen. Die räumlich differenziert wirkenden sozialen Prozesse sind äußerst komplex. So setzte zur Zeit der Industrialisierung eine starke Landflucht ein. In vielen gering entwickelten Staaten ist dies heute noch zu beobachten. Durch neue Erkenntnisse bei der Gesundheitsvorsorge und Umsetzung in der Krankheitsbekämpfung schnellte die Zahl der Bevölkerung in die Höhe und die Sterberate sank. Außerdem wurden viele Arbeitskräfte durch die Mechanisierung in der Landwirtschaft freigesetzt. Die Landwirtschaft bot dadurch immer weniger Arbeit für immer mehr Menschen. In einigen Regionen wirkte sich das Erbrecht durch die Teilung von Grundstücken ungünstig aus, so dass die wachsende Bevölkerung nicht mehr ausreichend ernährt werden konnte. Im Unterschied dazu gab es durch die Expansion von Handwerk und Manufakturen in den Städten eine enorme Nachfrage nach Arbeitskräften. Hinzu kam, dass große Teile der ländlichen Bevölkerung durch den Wegfall des Lehnwesens "frei" wurden und in die Stadt wandern konnten. So kam es zu einem verstärkten Zuzug von Menschen aus ländlichen Regionen, durch die wachsende Bevölkerung entstanden hier die wichtigsten Märkte.
Gegenwärtig sind die beiden Extreme Ballung und Entleerung. In Ballungsräumen kommt es zu räumlichen Konzentrationen von Menschen und damit auch zu einer Konzentration sozialer und wirtschaftlicher Aktivitäten. Beispiele hierfür sind große Metropolen wie Paris und London oder Verdichtungsräume wie das Ruhrgebiet. Die Ballung schlägt sich nicht nur in Statistiken nieder, sondern kann mit bloßem Auge wahrgenommen werden. Die Häuser stehen dichter und sind höher, es herrscht eine hohe Bevölkerungsdichte, es gibt viele Arbeitsplätze in der Industrie und vor allem im Dienstleistungssektor und es gibt verstärkt Immissionen. Die Verflechtungen mit dem Umland werden durch die vielen Berufspendler deutlich. Den verdichteten Kerngebieten und suburbanisierten Räumen stehen die strukturschwachen und dünn besiedelten Regionen gegenüber. Diese Gebiete werden oft als ländlicher Raum bezeichnet, dem die oben genannten Kennzeichen von Stadtregionen fehlen. Die Entleerung verursacht nicht nur Probleme für den betroffenen Raum. In den Ballungsräumen finden Verdichtungsprozesse durch die Zuwanderungen statt, die über das "gesunde Maß" und die Tragfähigkeit der Stadtregion hinausgehen. Die Folgen sind knapper Wohnraum, steigende Mieten und eine Überlastung der Verkehrsinfrastruktur.


Abbau von Disparitäten

Das Ergebnis von regionalen Disparitäten sind ungleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen. Diese sind eine Folge von Wechselwirkungen zwischen Kapital- und Bevölkerungskonzentration sowie Lebenschancen. Aus dem Grundgesetz leitet sich das Ziel ab, gleichwertige Lebens- und Arbeitsverhältnisse auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen. In weiteren Gesetzen und Bestimmungen, wie im Raumordnungsgesetz, wird dieses Ziel erläutert und präzisiert. Deshalb ist es nicht akzeptabel, dass räumliche Ungleichheiten unterschiedliche individuelle Entwicklungsmöglichkeiten vordefinieren und es werden Maßnahmen zum Abbau von Disparitäten ergriffen.
Zunächst muss zwischen den hauptsächlichen Ursachen der Ungleichheiten entschieden werden. Einzelne Gründe wie periphere Lage, niedriges Qualifikationsniveau der Bevölkerung, unzureichende infrastrukturelle Ausstattung und eine ungünstige strukturelle Ausrichtung der regionalen Wirtschaft (z. B. mit großem Gewicht auf die Landwirtschaft) spielen im Wesentlichen zusammen. Neben den relativ rückständigen Gebieten, gibt es aber auch Regionen, die einst wohlhabend waren und nun immense wirtschaftliche Probleme haben. Betroffen sind vor allem Gebiete mit Industrien, die in Europa vom Niedergang gekennzeichnet sind wie Kohlenbergbau, Textilindustrie, Stahlindustrie und Schiffbau oder Länder in Transformationsprozessen wie die neuen Bundesländer oder die osteuropäischen Staaten. Auf den verschiedenen räumlichen Ebenen (EU, Bund, Land, Gemeinde) werden gezielt Maßnahmen mit zahlreichen Förderinstrumenten ergriffen, um zurückgebliebene Gebiete zu entwickeln. Die Förderung besteht in der Gewährung von finanziellen Anreizen für die Ansiedlung von Gewerbe oder in der Ausstattung der Kommunen mit zusätzlichen Mitteln zur Infrastrukturverbesserung. So wird das Verkehrswegenetz durch neue Autobahnen verbessert, der ländliche Raum mit Dorferneuerungsprogrammen unterstützt, die Landwirtschaft in der EU mit umfangreichen finanziellen Mitteln subventioniert, es wurden Tourismusvorhaben gefördert und Arbeitsplätze in traditionellen Industriezweigen wie Fischfang und Kohlenbergbau durch staatliche Beihilfen erhalten. Bevor Gebiete staatlich unterstützt werden können, müssen sie als Fördergebiete eingestuft werden. Hierzu werden verschiedene Kennziffern wie Arbeitslosigkeit und Wertschöpfung herangezogen und dann die jeweilige Förderwürdigkeit bestimmt.
Über das Pro und Kontra von Maßnahmen zum Abbau der Disparitäten wird diskutiert, seit es die Förderinstrumente gibt. Gegner behaupten, die Verhältnismäßigkeit von Einsatz und Erfolg steht nicht im Einklang. Außerdem würden die Fördermaßnahmen eher strukturkonservierend als strukturmodernisierend wirken. Die Befürworter erwidern, dass in einer Demokratie Chancengleichheit bestehen muss und der Abbau von Disparitäten eine Voraussetzung dafür ist. Ein wichtiges Fazit ist jedoch, dass Geld aus dem Fördertopf allein vielfach nicht dazu führt, dass sich ein selbsttragender wirtschaftlicher Aufschwung in den Förderregionen einstellt und bestehende Ungleichheiten dadurch abgebaut werden. Im Gegenteil, die Regionen bzw. deren Akteure gewöhnen sich an die unterstützende Hilfe und ergreifen womöglich weniger Eigeninitiativen. Ein pauschales Erfolgsrezept für die Beseitigung von Disparitäten gibt es nicht. Was in der einen Region funktioniert, muss in anderen Landstrichen noch lange nicht zum Erfolg führen. In den 1980er Jahren war Irland noch eines der ärmsten Länder der EU. Heute führt Irland in vielen Wirtschaftsstatistiken und wird auch als "Celtic Tiger" bezeichnet. Dieselben Maßnahmen würden aber beispielsweise in den neuen Bundesländern erstens in der Art nicht umsetzbar sein und zweitens auch nicht den gleichen Erfolg bedingen. Letztendlich gilt, dass zum Abbau von Disparitäten der Mensch der wichtigste Faktor ist.


Literatur

BATHELT, H. & J. GLÜCKLER (2002): Wirtschaftsgeographie.- Stuttgart.


Quelle: Geographie Infothek
Autor: Mirko Ellrich
Verlag: Klett
Ort: Leipzig
Quellendatum: 2012
Seite: www.klett.de
Bearbeitungsdatum: 29.05.2012