Indikatoren der "Unterentwicklung"


Kriterien zur Bewertung der Struktur und des Entwicklungsstandes eines Landes



(Klett)

Um ein einigermaßen zuverlässiges Bild von der Struktur und dem Entwicklungsstand eines Landes gewinnen zu können, muss man eine möglichst große Zahl von Merkmalen heranziehen und sie zueinander in Beziehung setzen.
Nachfolgend sind einige wichtige Merkmale aufgeführt. Zu beachten ist dabei, dass die einzelnen Indikatoren in der entwicklungspolitischen Diskussion je nach politischem und theoretischem Standort unterschiedlich bewertet werden.
Als Schlüsselbegriff wird in fast allen Untersuchungen das Pro-Kopf-Einkommen (Bruttosozialprodukt geteilt durch die Bevölkerung eines Landes) genannt. Seine Aussagekraft ist jedoch begrenzt. Schwierigkeiten ergeben sich bereits bei der Erfassung des Bruttosozialproduktes, da es nur marktwirtschaftlich bewertete Güter und Dienstleistungen misst, nicht aber die in vielen Entwicklungsländern weit verbreitete Subsistenzwirtschaft (Selbstversorgungswirtschaft), den informellen Sektor oder den Tauschhandel. Erschwerend kommt noch dazu, dass die in internationalen Währungen gemessenen BSP-Werte für Vergleichszwecke auf eine gemeinsame Basis umgerechnet werden müssen. Die dazu verwendeten Wechselkurse unterliegen jedoch starken Schwankungen; diese ergeben sich vor allem durch den Außenhandel und verzerren somit die eigentlich interessierende Größe, die Kaufkraft der Währungen. Daten über den Anteil der Erwerbspersonen in den drei Wirtschaftsbereichen Landwirtschaft, Industrie, Dienstleistungssektor und über die Verteilung des Bruttoinlandsproduktes auf die drei Wirtschaftsbereiche geben einen Hinweis u. a. auf den Industrialisierungsgrad eines Landes oder die Produktivität der einzelnen Wirtschaftsbereiche. Indem man z. B. den Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt durch die Anzahl der Erwerbstätigen in diesem Sektor dividiert, erhält man überschlagsmäßig den Leistungsfaktor der Landwirtschaft, der wiederum einen Vergleich mit der Landwirtschaft anderer Länder ermöglicht.
Ein besonderes Gewicht kommt der Kapitalausstattung zu: Kann das Land die notwendigen Investitionen aus eigener Kraft tätigen oder ist es auf Fremdkapital und Entwicklungshilfe angewiesen? Wie hoch ist es durch Fremdkapitalaufnahme verschuldet und in welchem Umfang kann es die Zinsen und Tilgungen aus den Exporterlösen bestreiten?
Wichtig für die Bewertung sind auch Daten über die Außenhandelsstruktur: Anteil am Welthandel, Art der Export- bzw. Importgüter (z. B. Exporteinseitigkeit mit einem Schwergewicht auf Rohstoffen), Terms of Trade etc..
Mit dem Begriff Terms of Trade beschreibt man das Austauschverhältnis im internationalen Handel. Es gibt an, wie viele Einheiten an Importgütern ein Land im Austausch gegen eine Einheit seiner Exportgüter erhält. Von entscheidender Bedeutung ist ferner die Frage, ob die Infrastruktur (Verkehrserschließung, Energie- und Wasserversorgung, Telekommunikation etc.) ausreichend ausgebaut ist. Sie kann über den Erfolg eines Landes oder den Misserfolg eines anderen entscheiden – sei es hinsichtlich der Ausweitung des Handels, der Senkung der Produktionskosten bzw. der Steigerung der Produktivität oder der Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der Umweltbedingungen. Mit der wachsenden Erkenntnis, dass Unterentwicklung nicht primär ein wirtschaftliches Problem ist, gewinnen soziale Merkmale immer mehr an Bedeutung. Sie geben oft ein zuverlässigeres Bild über die Lebensqualität der Bevölkerung als das Pro-Kopf-Einkommen.
So wirft eine hohe Wachstumsrate der Bevölkerung die Frage auf, ob das Wirtschaftswachstum mit ihr Schritt halten und ob das Land ausreichend Arbeitsplätze für die auf den Arbeitsmarkt drängende junge Bevölkerung schaffen kann. Aus einer unzureichenden Nahrungsmittelversorgung resultieren schlechte Gesundheitsverhältnisse, die wiederum die Arbeitskraft der Menschen einschränken, ihr Einkommen mindern und eine geringe Lebenserwartung verursachen. Ein unterentwickeltes Bildungssystem, eine hohe Analphabetenquote sowie begrenzte Möglichkeiten der beruflichen Ausbildung bedingen einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, wirken hemmend auf technische Innovationen und damit auf die Produktivität in der Landwirtschaft, in der Industrie und im Handwerk. Arbeitslosigkeit ist eine der Hauptursachen für die Armut Hunderter von Millionen Menschen in den Entwicklungsländern und damit zugleich eine der Ursachen für Hunger, Krankheit und Obdachlosigkeit. Eine versteckte Arbeitslosigkeit tritt vor allem im tertiären Sektor (z. B. Straßenhandel) und in der Landwirtschaft auf, wenn beispielsweise die kleinen Ackerflächen nicht genügend Arbeit und Nahrung bieten. Statistisch noch schwerer zu fassen sind andere Merkmale, die aber in den letzten Jahren ein immer stärkeres Gewicht bekommen, wie z. B. die ungesicherte Rechtsstellung der Frauen, die in vielen Entwicklungsländern eine Schlüsselrolle in wirtschaftlich und sozial wichtigen Bereichen innehaben, oder die gravierenden Umweltschäden, die zu einem erheblichen Teil durch die immer stärkere Nutzung der verfügbaren Boden-, Wasser- und Vegetationsressourcen hervorgerufen werden, um den Nahrungs- und Energiebedarf der wachsenden Bevölkerung zu decken. Eine Liste von Indikatoren kann – auch wenn sie noch so ausführlich ist – lediglich Erscheinungen der „Unterentwicklung“ aufzeigen, nicht aber deren Ursachen erklären. Bei ihrer Verwendung ist zusätzlich darauf zu achten, dass die einzelnen Merkmale stets in einen größeren Zusammenhang zu setzen sind.


Quelle: TERRA Erdkunde SII - Räume und Strukturen
Autor: U. Brameier u.a.
Verlag: Klett-Perthes
Ort: Gotha
Quellendatum: 2000
Seite: 270/271
Bearbeitungsdatum: 25.11.2005