Infoblatt Sprachgeschichte


Ursprung der Sprachen und die Geschichte der deutschen Sprache

Bereits im Alltag erleben wir, dass Sprache nichts Gleichbleibendes ist, sondern sich ständig wandelt. Zum einen geraten bestimmte Ausdrücke in Vergessenheit, während andere neu entstehen. Wissen manche Jugendliche mit Begriffen wie Fürwitz oder Petticoat nichts mehr anzufangen, sind viele ältere Menschen von den Handys und Top-Events der jüngeren Generation verwirrt.
Andererseits ändert sich auch der Inhalt (Semantik), den eine Sprachgemeinschaft mit bestimmten Worten verbindet: War Volk während des Dritten Reiches mit Ideen von Rasse und Volk als "Organismus" verbunden (Volkskörper, Volksgemeinschaft), wurde der Ausdruck in der DDR eher basisdemokratisch/proletarisch verstanden (Volksdemokratie). Die heute übliche Verwendung umfasst schließlich nur noch die Kernbedeutung Bürger bzw. Träger der Souveränität (Wir sind das Volk, Wahlvolk). Die genannten "Nebenbedeutungen" (Konnotationen) hat Volk nur noch in historischen Zusammenhängen.
Außerdem wandelt sich im Laufe der Zeit auch die Grammatik einer Sprache, wie im Falle des deutschen Genitivs (wessen?), der immer seltener verwendet wird. Die Schule lehrt zwar noch, es hieße das Fahrrad des Sohnes, doch wäre es für alle Schüler in ihrer Umgangssprache sicher das Fahrrad von dem Sohn.
Schon deutsche Texte aus dem 19. Jahrhundert, ob Goethes Faust oder ein persönlicher Brief, enthalten zahlreiche Worte und Wendungen, die im heutigen Deutsch nicht mehr vorkommen. Für die ältesten Texte, die als deutsch bezeichnet werden können, wie etwa das Nibelungenlied oder die Gedichte von Walther von der Vogelweide, benötigen wir zum Verständnis im Grunde eine Übersetzung. Worte, die uns bekannt vorkommen, hatten damals teils völlig andere Bedeutungen. So verbirgt sich hinter der arebeit des Nibelungenliedes eben nicht Arbeit, sondern Mühsal, Leid, Kummer. Gehen wir noch weiter zurück, gelangen wir in eine Zeit, in der das Deutsche noch nicht existierte.


Ursprünge der Sprachgeschichte

Dass Sprachen nicht nur eine Geschichte haben und sich ständig wandeln, sondern dass sich unterschiedlichste moderne Sprachen auch auf gemeinsame Vorfahren zurückführen lassen, erkannte man allerdings erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Im Rahmen der "Entdeckung" der Erde durch europäische Händler, Eroberer und Forscher begann auch die Beschäftigung der europäischen Wissenschaft mit den vielfältigen Sprachen der Welt.
Der Brite William Jones, der sich vor allem mit den Sprachen Indiens befasste, erkannte 1786 als erster, dass die heilige Sprache der Hindus, das Sanskrit, in Wortschatz und Grammatik Ähnlichkeiten mit Latein und Griechisch aufweist, die sich durch Zufall nicht erklären lassen.
Von dieser Entdeckung fasziniert begannen immer mehr Sprachwissenschaftler, die alten, aber auch die modernen Sprachen der Welt miteinander zu vergleichen, um ihre Beziehungen untereinander aufzudecken, aber auch um ihre geschichtliche Entwicklung verstehen zu lernen.


Baum der Sprachen

Sie entdeckten zum einen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen verschiedenen Sprachen, die es ihnen beispielsweise erlaubten, Sanskrit, Latein und Griechisch auf den gemeinsamen Vorfahren "Proto-Indoeuropäisch" zurückzuführen und fast alle modernen europäischen Sprachen in dieselbe Sprachfamilie einzuordnen. Unser Wort Vater etwa geht auf das Gotische/Germanische fadar zurück, das französische père und das spanische padre auf das Lateinische pater. Fadar, pater sowie das Sanskrit-Wort piter lassen sich wiederum auf eine gemeinsame indoeuropäische Wurzel zurückführen.
Man entwickelte auf diese Weise einen ganzen "Stammbaum der Sprachen".


Gesetze des Sprachwandels

Die Sprachforscher bemerkten auch, dass der Sprachwandel, vor allem die Art, wie sich die Laute der Sprache wandeln, bestimmten Gesetzen unterliegt. So entdeckte man etwa, dass bei der Aufspaltung des Sprachbaumes in andere Sprachen (z. B. Sanskrit, Latein) und das Germanische (z. B. Deutsch) das ältere "p" am Wortanfang in zahlreichen Sprachen erhalten blieb, während im Deutschen an dieser Stelle heute meist ein f steht (sog. "1. oder germanische Lautverschiebung"). Also lat. Piscis - dtsch. Fisch, lat. Pes - dtsch. Fuß und eben lat. Pater - dtsch. Vater.
So konnten nicht nur die verschiedensten bekannten "lebendigen" und "toten" Sprachen in Entwicklungsreihen eingeordnet werden. Es gelang auch, ihre "Vorfahren" zu rekonstruieren, also die möglichen Sprachen einer Zeit, aus denen uns keine schriftlichen Aufzeichnungen überliefert sind. Lange glaubte man, auf diese Weise irgendwann auch eine mögliche Ursprache aller Menschen wieder erschließen zu können, doch von diesem Ziel ist auch die moderne Wissenschaft noch weit entfernt.


Warum eigentlich Sprachgeschichte?

Warum verwendet die Wissenschaft eigentlich soviel Mühe darauf, die Geschichte der menschlichen Sprachen zu erkunden? Die Erhellung der Sprachgeschichte ist nicht Selbstzweck. Ältere Texte auch der eigenen Sprache, lassen sich meist nur dann vollständig verstehen, wenn die älteren Sprachstufen auch bekannt sind. Gleichzeitig lassen sich aus dem gemeinsamen Wortschatz verwandter Sprachen oft interessante Rückschlüsse auf die Lebenswelt unserer Vorfahren ziehen: Vor allem aus gemeinsamen Tier- und Pflanzennamen lassen sich oft Wanderungsbewegungen unserer Vorfahren ableiten. Bekanntestes Beispiel für die Zusammenhänge von Siedlungs- und Sprachgeschichte ist wohl das Englische: Es enthält die sprachlichen Spuren der keltisch- und lateinischsprachigen Urbevölkerung (clan, hour) ebenso wie den starken Einfluss der germanisch-sprachigen (daughter, sheep) Einwanderer der Völkerwanderungszeit und des frühen Französisch der Normannen (mutton), die 1066 die letzte Invasion der Insel begannen.


Kurze Geschichte des Deutschen

Aus dem Stamm der indoeuropäischen Sprachen trennte sich um etwa 500 v. Chr. der Zweig der germanischen Sprachen, der sich von den anderen indoeuropäischen Sprachen unter anderem durch die Folgen der genannten germanischen Lautverschiebung unterschied. Während der Völkerwanderungszeit, als zahlreiche germanische Stämme neue Siedlungsgebiete suchten, trennte sich dann das so genannte Althochdeutsche, die erste Sprache, die wirklich als Deutsch bezeichnet wird, von den übrigen germanischen Sprachen. Da erste schriftliche Überlieferungen erst im Rahmen der Christianisierung der Germanen entstanden, setzt man das Althochdeutsche allgemein von ca. 800 n. Chr. bis ca. 1050 n. Chr. an. Bis ca. 1350 folgte dann das Mittelhochdeutsche (z. B. Nibelungenlied), von 1350 bis etwa 1650 das Frühneuhochdeutsche (unter anderem die Lutherbibel). Erst danach spricht man vom Neuhochdeutschen, der Sprache, die wir heute noch sprechen. Ihr wichtigstes Merkmal ist die Tendenz zu einer immer stärker vereinheitlichten Hochsprache, die mit der Erfindung des Buchdrucks und der deutschen Bibelübersetzung Luthers einsetzte. Im modernen Medienzeitalter ging die Benutzung regionaler Dialekte dann noch stärker zurück.


Aktuelle Entwicklungen der deutschen Sprache – die Streitfrage der Anglizismen

Man sollte natürlich bei all dem nicht vergessen, dass Sprachen niemals klar voneinander abgegrenzt sind, sondern sich auch gegenseitig stark beeinflussen. Wie das Lateinische das Althochdeutsche mitprägte, so übernahmen unsere Vorfahren im 17. und 18. Jahrhundert zahlreiche französische Begriffe. In beiden Fällen "exportierte" die beherrschende kulturelle und militärische Macht ihrer Zeit auch ihre Sprache. Büro und Portmonee, obwohl "eingedeutscht", weisen noch darauf hin.
Die einflussreichste und kulturell beherrschende Großmacht unserer Zeit sind unbestritten die USA. Aus diesem Grund finden sich in fast allen heute gesprochenen Sprachen zahlreiche Wortübernahmen aus dem (amerikanischen) Englisch, sog. Anglizismen.
Einige Kritiker dieses modernen Sprachgebrauchs interpretieren diese Entwicklung als Verarmung oder gar Verschandelung des Deutschen und weisen zu Recht darauf hin, dass die "englischen Importe" viele ältere oder weniger gebildete Menschen vor Verständnisprobleme stellen. Muss eine Einrichtung zur modernen Schlaganfallbehandlung als stroke unit bezeichnet werden? Muss der deutsche Bundespräsident eine party für kids veranstalten?
Gleichzeitig beweist ein Blick in die Sprachgeschichte, dass Wortübernahmen aus anderen Sprachen, auch in großer Zahl, kaum etwas Neues sind. Die meisten Ausdrücke werden früher oder später dem deutschen Sprachgebrauch angepasst und fallen dann gar nicht mehr als Fremd- oder Lehnworte auf. Sogar Nase stammt ursprünglich aus dem Lateinischen. Wer denkt bei Kopie oder Adresse noch daran, dass dies einst Fremdworte waren? Oder bei Sport, Team oder Babysitter, dass dies Anglizismen sind? Eine "reine" deutsche Sprache hat es nie gegeben, Sprachentwicklung bedeutet vor allem auch gegenseitige Einflüsse verschiedener Sprachen (Interferenz).
Bei der Beurteilung von Anglizismen ist vor allem wichtig, in welchem Kontext sie gebraucht werden und ob sie einen Sachverhalt bzw. einen Gegenstand benennen, für den es bereits einen deutschen Ausdruck gibt. Muss man Anglizismen verwenden, wenn die Zielgruppe ganz klar Senioren (stroke unit) sind? Klar definierte "internationale" Begriffe, vor allem für neue Technologien (E-Mail, Homepage), sind für eine reibungslose globale Kommunikation hingegen von Vorteil.
Für Computer oder World Wide Web deutsche Alternativen suchen zu wollen, wäre wohl müßig. Ebenso wie Jogging oder Compact Disc (CD) kamen diese Bezeichnungen zusammen mit den Erfindungen oder Ideen, die sie benannten, nach Deutschland. In diesen Fällen fügen sich Anglizismen problemlos in die deutsche Sprache ein. Aber müssen die Medien von der (Bush-)Administration sprechen, obwohl dieses Wort nur im amerikanischen Englisch Regierung bedeutet, bei uns jedoch eigentlich Verwaltung? Warum reden wir von einem Handy, obwohl die Briten und Amerikaner vom mobile phone sprechen? Diese "Anglizismen" erschweren das Sprachverständnis eher.
In manchen Bereichen, z. B. Werbung, Politik oder Unternehmensberatung, werden Anglizismen auch eingesetzt, um mit der Verwendung eines neuen Begriffs auch einen Neuigkeitswert der genannten Idee oder des genannten Gegenstandes vorzutäuschen. So ist benchmarking z. B. nichts anderes als ein Vergleichstest – doch letzteres könnte man wohl kaum als neue Art der Optimierung von Unternehmensabläufen vermarkten. Derartige Worthülsen dienen im Grunde der Augenwischerei.
Das Hauptziel jeder Sprachverwendung und auch Grundlage der Beurteilung von Entwicklungen der Sprache ist das Miteinander-Reden, die gegenseitige Verständlichkeit. Nach diesem Kriterium sollte auch der Gebrauch von Anglizismen von Fall zu Fall abgewogen werden.


Literatur

BUSSMANN, Hadumod (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart.
CRYSTAL, David (1995): Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Frankfurt a. M. / New York.


Quelle: Geographie Infothek
Autor: Christiane Marxhausen
Verlag: Klett
Ort: Leipzig
Quellendatum: 2012
Seite: www.klett.de
Bearbeitungsdatum: 01.05.2012