Raumwahrnehmung - eine besondere geographische Kompetenz



Einführung

Für eine differenzierte Gesellschaft mit ihren vielfältigen Interessenlagen haben ein und dieselben Orte, Räume oder Landschaften ganz unterschiedliche Bedeutungen oder Wertigkeiten. Wie deren Potenziale genutzt werden, hängt in starkem Maße davon ab, wie einzelne Gruppen in der Gesellschaft einen Raum wahrnehmen und von welchen Interessen sie sich leiten lassen. Bei unterschiedlichen Wahrnehmungen sowie Bedeutungszuweisungen und widerstreitenden Interessen entstehen Konflikte. Es sind also nicht Raum und Natur, die das Handeln der Menschen determinieren, in erster Linie entscheiden die Akteure einer Gesellschaft selbst über die Nutzung der natürlichen Möglichkeiten.
Woraus ergeben sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen eines Raumes? Wie beeinflusst der Prozess der Wahrnehmung die Entscheidungen der Menschen? Welche Folgen ergeben sich für die Behandlung, Nutzung und Ausgestaltung von Räumen?


Prozess der Raumwahrnehmung

Die moderne Wahrnehmungsforschung hat ermittelt, dass jedes Individuum seine räumliche Umwelt subjektiv wahrnimmt und daraus spezifische Vorstellungsbilder entwickelt. Für den einen ist die Wüstenlandschaft ein heiliger Ort, für den anderen eine Uranlagerstätte. Diese Bilder der persönlich wahrgenommenen und damit transformierten Umwelt werden auch als „kognitive Karten“ oder „mental maps“ bezeichnet. Ihre Ausprägung ergibt sich aus den Informa tionen („Stimulus/Reiz“), die der Wahrnehmende über einen bestimmten Raum („ potenzielle Umwelt“) aufnimmt. Diese Informationen werden aber nur gefiltert wahrgenommen, wobei Faktoren wie persönliche Erfahrungen, Werte orientierungen, Emotionen, Bedürfnisse und vor allem die eigenen Interessen und damit Intentionen ausschlaggebend sind. Auch Alter, Bildungsniveau und die Gruppen- bzw. Schichtzugehörigkeit spielen eine wichtige Rolle.
Unter dem Einfluss der genannten Faktoren wird ein bestimmter Raum „gelesen“ und es entsteht durch diese Form der Informationsverarbeitung („Kognition“) die persönlich „rezipierte Umwelt“. Der Aborigine sieht in dem Ausschnitt aus der australischen Wüstenlandschaft ein zu bewahrendes Heiligtum, der Caterpillar-Fahrer eine Baustelle und die Vertreter der Bergbaufirma ein profitables Investitionsprojekt. Aus dem jeweiligen Vorstellungsbild folgt eine spezifische Reaktion, ein unterschiedliches räumliches Handeln. Jeder der Beteiligten versucht seine Ziele und Interessen zu verwirklichen und in ein entsprechendes „Projekt“ umzusetzen. Die Entscheidung für eine bestimmte Handlungsmöglichkeit – also z. B. für die Ausbeutung der Uranlagerstätte – schafft mit der Verwirklichung des entsprechenden Projekts wiederum neue Fakten und Informationen, die bei allen Beteiligten u. U. zu modifizierten Vorstellungsbildern und zu einem veränderten räumlichen Handeln führen. Die subjektiven Vorstellungsbilder sind also nie endgültig. Unsere „mental maps“ werden mit jeder Aufnahme neuer Informationen verändert.


Raum und Gefühl – Neue Erlebniswelten

Der heutige Stadtbewohner hat nur noch selten die Gelegenheit, naturnahe Räume unmittelbar zu erleben und wahrzunehmen. Um „der Natur“ nahe zu kommen, muss er sich entweder am Wochenende auf eine Wanderung in einen unserer Natur- bzw. Nationalparks begeben oder er muss für seinen Urlaub eine Safari in exotische Räume buchen. Das gilt für einen Großteil unserer Bevölkerung, denn für die meisten von uns stellt die Stadt den Lebensraum dar, in dem wir unseren Alltag verbringen. Das bedeutet, dass wir in einer zunehmend von der Natur entfremdeten, mehr und mehr künstlichen Umwelt leben. Der uns umgebende Raum ist in immer stärkerem Maße gekennzeichnet durch intensive Bebauung mit Glas und Beton als vorherrschende Baumaterialien, durch Flächenversiegelung und dichte Verkehrsnetze.
Die moderne Erlebnisindustrie bietet hierfür einen Ausgleich. Sie schafft Traumwelten der Natur, die es dem Stadtbewohner erlauben, der Alltagsmonotonie seiner Umwelt für eine gewisse Zeit zu entfliehen.


Exkursionen im virtuellen Raum des Internets

Im Zeitalter des Internets erleben wir ein völlig neues Raumgefühl. Es scheint so, als sei die ganze Welt derart miteinander verbunden, dass räumliche Distanzen nahezu aufgehoben sind. Das suggeriert schon der Name „world wide web“. Das weltweite Kommunikationsnetz bietet nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und des Austausches. Es bringt Menschen aus entferntesten Regionen miteinander in Kontakt, die ohne dieses neue Medium möglicherweise nichts von den Lebensbedingungen und dem Wirtschaften der jeweils anderen wüssten. Das Internet schafft damit einen neuen, einen virtuellen Raum, der keine Grenzen mehr kennt. Dieser Raum unterscheidet sich deutlich vom klassischen geographischen Verständnis des Raumes mit seiner genauen Verortung, seinen spezifischen und doch so unterschiedlich wahrgenommenen bzw. bewerteten Merkmalen und seiner Abgeschlossenheit.
Die angesprochenen Chancen des Internet können genutzt werden, um ausgewählte klassische „Räume“ zu erschließen. Hierzu dienen virtuelle Exkursionen. Damit sind computertechnische Möglichkeiten gemeint, mit der Anwender in die Lage versetzt werden, sich in einer computersimulierten Umwelt umzusehen, sich dort zu bewegen und möglicherweise auch auf diese Umwelt zu reagieren.
Der virtuelle Besuch eines Vulkans, eines Gletschers, einer Stadt, einer Region oder eines Landes bietet neue Erlebnisse, die zwar im Vergleich zu einer realen Exkursion nur einen indirekten Eindruck vermitteln. Aber sie machen Spaß, weil sie es erlauben, selbstgesteuert und in entfernten Regionen auf Entdeckungsreise gehen zu können.
Virtuelle Exkursionen haben den Vorteil, dass sie jederzeit ohne großen Aufwand durchführbar sind. Ein PC-Raum, der Zugang zum Internet und eine Aufgabenstellung bzw. „Forschungsfrage“ reichen aus – und schon kann die Exkursion beginnen.


Raum und Zeit

Geographie ist eine Wissenschaft der räumlicher Prozesse und Veränderungen. Die Dimension Zeit spielt daher eine entscheidende Rolle als Untersuchungskategorie. Sie dient dazu, die Vorgänge im Raum zu strukturieren und zu verstehen. Die Zeitspanne reicht dabei von der Betrachtung Jahrmillionen dauernder geologischer Prozesse bis zur Analyse von sehr kurzfristigen, manchmal nur Sekunden, Minuten oder Stunden dauernden Katastrophenereignissen wie Erdbeben oder Vulkanausbrüchen mit ihren dann wieder langfristigen Folgen. Aber auch Vorgänge mit einer mittleren Reichweite, die also in einigen Jahrtausenden ablaufen wie zum Beispiel kulturhistorische Entwicklungen, stehen im Blickfeld der Geographie.
Unsere Alltagswahrnehmung räumlicher Prozesse konzentriert sich in der Regel – gesteuert durch die Medien – auf das Neue, Plötzliche, Unerwartete, Sensationelle. Dabei sollte uns bewusst sein, dass gerade die Veränderungen mittlerer oder langer Reichweite unsere Lebensgrundlagen und das Dasein auf diesem Planeten entscheidend mitbestimmen.


Quelle: Quelle: 978-3-12-104109-1 TERRA Geographie für Rheinland-Pfalz, Ausgabe für Gymnasien und Gesamtschule, Schülerbuch, Oberstufe
Verlag: Klett
Ort: Stuttgart, Leipzig
Quellendatum: 2011
Seite: 12-19