Koka-Wirtschaft in den Andenstaaten


Von vielen Lateinamerikakennern wird die organisierte Kriminalität als das gegenwärtig größte Problem zahlreicher Länder Süd- und Mittelamerikas angesehen. An die Stelle der politisch motovierten Kriminalität der 1970er und 1980er Jahre (Guerillas gegen den Staat, Paramilitärs gegen Guerillas, Bürgermilizen gegen Bürgermilizen), deren Akteure nach ihrem eigenen Verständnis auf eine revolutionäre Veränderung von Staat und Wirtschaft zielten, ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt die Drogenkriminalität getreten. Auch wenn es sich nicht immer nachweisen lässt, sind die meisten Guerillagruppen heute in das Drogengeschäft verstrickt. Sie bauen entweder selbst die Drogenpflanzen an oder zwingen Bauern zum Anbau, um einen Teil der Gewinne abzuschöpfen; sie beherrschen den nationalen und internationalen Drogenhandel oder schaffen überhaupt erst die Voraussetzungen für Anbau und Handel. Die staatlichen Sicherheitskräfte sind in ihrem Kampf gegen den Drogenhandel oft machtlos; sie sind zumeist schlecht ausgestattet, unterbezahlt und damit der Korruption ausgesetzt. Seit einigen Jahrzehnten stellt Kokain das umsatzstärkste "harte" Rauschgift auf dem internationalen illegalen Drogenmarkt dar. Es wird aus der Koka-Pflanze gewonnen, die vornehmlich in den Andenstaaten Kolumbien, Peru und Bolivien angebaut wird. Das Hauptabsatzgebiet sind die USA. So wundert es nicht, dass es die USA waren, die in den 1990er Jahren zum "war on drugs" aufriefen.


"Koka ist nicht Kokain"

Seit jeher spielt die Kokapflanze eine wichtige Rolle im Leben der andinen Völker. Archäologische Funde belegen, dass das Kauen von Kokablättern spätestens seit dem 2. vorchristlichen Jahrtausend unter den Ureinwohnern besonders der heutigen Staaten Peru und Bolivien weit verbreitet war, und auch heute noch wird es von Millionen von Coqueros (Kokakauern) praktiziert. Dabei werden mehrere getrocknete Kokablätter im Munde mit Speichel vermischt und zu einem Ballen geformt. Aus diesem Ballen saugt der Coquero einen grünen Saft, der das Alkaloid Kokain enthält. Die übliche Tagesration an Kokablättern beträgt 30 bis 40 Gramm.
Koka stimuliert das Zentralnervensystem, verleiht dem Benutzer ein Gefühl größerer Kraft und Ausdauer, verbessert das subjektive Allgemeinempfinden und unterdrückt zeitweise das Hunger- und Kältegefühl. Der regelmäßige Kokagenuss erleichtert den Bewohnern des Hochlandes das Leben und Arbeiten in den sauerstoffarmen Hochtälern der Anden. Außerdem wirkt Koka aufgrund seines hohen Gehalts an Vitaminen und Mineralstoffen als Medizin gegen verschiedene Beschwerden. Schließlich kommt ihm auch eine rituelle Funktion bei Festen und religiösen Riten zu und es gilt somit als Symbol kultureller Identität. Auch deswegen sind der Anbau und die Vermarktung von Koka für den traditionellen Konsum in kleinen Mengen in Peru und Bolivien (nicht aber in Kolumbien) vom Gesetzgeber erlaubt.


Aus der "heiligen Pflanze der Inkas" wird Kokain und Crack

Etwa 90 Prozent der geernteten Kokablätter sind heute nicht mehr für den traditionellen Konsum bestimmt, sondern werden zu Kokapaste weiter verarbeitet, die wiederum den Grundstoff für das Kokain darstellt. Aus ca. 1.000 kg getrockneter Blätter lassen sich etwa 3 kg chemisch reines Kokain herstellen. Die Verarbeitung der Kokablätter zu Kokapaste erfolgt vor allem in Peru und Bolivien in versteckten Drogenküchen. Von dort wird die Paste mit Kleinflugzeugen zur Weiterverarbeitung nach Kolumbien transportiert, wo mächtige Händlerorganisationen den Export zum Hauptabsatzmarkt USA besorgen.
Ein Derivat des Kokas ist die Droge Crack, die aus Kokainsalz und Natron hergestellt wird. Crack ist die Droge mit dem höchsten psychischen Abhängigkeitspotenzial, gefolgt von Nikotin und Heroin. Aufgrund des niedrigen Preises der Einzeldosis wurde sie in den USA schon früh zum bevorzugten Suchtstoff in der Unterschicht, vor allem der Marginal- und Ghettobevölkerung. Aufgrund der wachsenden Nachfrage und des hohen Abhängigkeitspotenzials, das u.U. schon nach dem Erstkonsum einsetzt, kam es zu einem deutlichen Anstieg der Beschaffungskriminalität und –prostitution. Dies erhöhte mehr und mehr den Druck auf die staatlichen Entscheidungsträger und führte in den 1990er Jahren schließlich zum "war on drugs" der USA.


Wirtschaftsfaktor Koka(in)

Aufgrund der enormen Nachfrage stellte Koka in den Haupterzeugerländer Kolumbien, Peru und Bolivien das mit Abstand einträglichste Agrarerzeugnis dar. In Kolumbien wurde das Drogengeschäft sogar zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor überhaupt. Besonders die für den Kokaanbau geeigneten Tieflandgebiete im östlichen Vorland der Anden entwickelten sich zu den Hauptanbaugebieten. Sie wurden zum Anlaufpunkt mittelloser Bevölkerungsgruppen. So entwickelte sich die Einwohnerzahl der wichtigsten Kokaanbauzone Boliviens, die Region Chapare im Departamento Cochabamba, innerhalb von 15 Jahren bis Anfang 1980 auf knapp 200.000. Hinzu kamen tausende von Saisonarbeitern. Während in den 1980er Jahren noch ca. 10.000 Kleinbauern den Markt versorgt hatten, stieg deren Zahl bis 1990 auf etwa 70.000. Mitte der 1990er Jahre sah die Situation im Departamento Cochabamba wie folgt aus:

Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe ca. 35.000
Anbaufläche (ha) 102.504
davon Obst 51.365
Koka 33.000
Nettoeinkommen (US-$) 40,6 Mio.
davon Obst 9,8 Mio.
Koka 27,3 Mio.


Mit dem Kokaingeschäft werden in Bolivien jährlich geschätzte 1,5 bis 2 Mrd. US-$ umgesetzt. Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und niedriger Löhne schafft die Kokawirtschaft Beschäftigung und Einkommen für einen beachtlichen Teil der insgesamt 9,8 Mio. Einwohner Boliviens. Allein für die Region Chapare wird die Zahl der Familien, die vom Kokaanbau leben, auf 40.000 bis 60.000 geschätzt. Das sind über 80 Prozent aller dort lebenden Familien.
Ein Hauptkokaanbaugebiet in Peru ist das rd. 400 km nordöstlich von Lima gelegene Huallage-Tal. Es gilt als das bedeutendste aller Kokaanbaugebiete in den Anden. Nach Angaben des "World Drug Reports" wurden in Peru im Jahre 2010 61.200 Tonnen Kokablätter geerntet (Kolumbien: 119.000, Bolivien 30.900). Ca. 85 % waren für die illegale Produktion bestimmt. Das Herstellungspotenzial von Kokain in Peru wird auf fast 370 Tonnen geschätzt. Das entspricht einem Marktwert von einer Mrd. US-$. Auf den internationalen Märkten in Nordamerika und Europa beträgt der Wert dieser Menge das Zwanzigfache. Aber nur ein Bruchteil des Geldes verbleibt bei den vom Kokaanbau lebenden Familien. Sie verharren weiterhin in armen und ärmsten Verhältnissen.
Kolumbien gilt als der zentrale Knotenpunkt des internationalen Kokainhandels. Außerdem entwickelte sich das Land seit den 1990er Jahren zu einem wichtigen Heroin-Produzenten. Die Anbaufläche an Schlafmohn, Ausgangsstoff für ca. 5 Tonnen Heroin pro Jahr, wird mit 4.000 ha angegeben. Dass Kolumbien von der Wirtschaftskrise der 1980er Jahre, die fast alle Andenländer heimsuchte, weniger stark betroffen war, führen Experten u.a. auf den Zufluss von jährlich mehreren Milliarden US-$ aus dem Drogenhandel zurück. Peru und Bolivien erlebten hingegen in dieser Zeit eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen ihrer Geschichte. Dennoch: Auch in diesen Ländern hätte die Wirtschaftskrise ohne den dämpfenden Effekt der Kokawirtschaft wesentlich gravierendere Ausmaße gehabt. Der "positive" Effekt der Koka-Wirtschaft lässt sich auf die diversen Einkommensmöglichkeiten zurückführen: Anbau, Weiterverarbeitung des Kokas zu Kokapaste und Kokain, Beschaffung der dafür nötigen Chemikalien und Hilfsstoffe (u.a. Kerosin, Schwefelsäure, Azeton, Ammoniak, Kalk), Transport der Zwischen- und Endprodukte. Vom Milliardengeschäft profitieren jedoch vor allem die Drogenkartelle und Händler. Aber auch viele Banken sind am Drogengeschäft beteiligt, indem sie helfen, die riesigen Geldsummen reinzuwaschen. Die Bauern erhalten hingegen das kleinste Stück vom Kuchen. Zudem sind sie ständig Gefahren ausgesetzt: Guerillas und Paramilitärs erpressen Schutzgelder, Söldnertruppen, z.T. US-amerikanische, vernichten die Koka-Ländereien, die Drogenmafia setzt sie durch Entführungen und Gewalt, bis hin zum Mord, unter Druck.


Anbaufläche von Koka in den drei Haupterzeugerländern (Quelle der Daten: World Drug Report, verschiedene Jahrgänge, zuletzt 2011)





Produktion von Kokain in den drei Haupterzeugerländern (Quelle der Daten: World Drug Report, verschiedene Jahrgänge, zuletzt 2011)






Maßnahmen zur Dogenbekämpfung


Seit Anfang der 1990er Jahre unternehmen die Koka-Anbauländer – vielfach unter massivem Druck der USA – Bemühungen, den Koka-Anbau einzuschränken. Die konkreten Maßnahmen dazu variieren von Land zu Land. Einige setzen auf eine repressive Drogenbekämpfung und eine Vernichtung der Anbaufelder, wobei die USA die Vergabe von Entwicklungshilfe vom Erfolg der Ausrottungsmaßnahmen abhängig macht. Andere versuchen den Kokabauern ein gesichertes legales Einkommen zu ermöglichen, indem sie sie unterstützen, den Kokastrauch durch andere landwirtschaftliche Produkte zu ersetzen. Wieder andere sehen einen Ausweg in der grundlegenden Verbesserung der Lebensbedingungen und der infrastrukturellen Einrichtungen in den (oft peripheren, vernachlässigten) Anbauregionen. Einen "gemäßigten" Weg geht die bolivianische Regierung unter Evo Morales, selbst ein ehemaliger Kokabauer. Nach dessen Vorstellung soll das Kokablatt in der Gesetzgebung wie ein normales Agrarprodukt behandelt werden. Die Bauern dürfen in kleinem Umfang Kokasträucher anbauen und gleichzeitig werden Kokaanbauflächen durch andere Pflanzungen ersetzt.
Die Erfolge der Maßnahmen sind widersprüchlich. Die gesamte Kokaanbaufläche ist in den Andenstaaten zwar zurückgegangen. Die Produktion von Kokain ist jedoch vorübergehend gestiegen - möglicherweise ein Ergebnis intensiverer Anbaumethoden auf den verbliebenen Flächen. Viele Kokabauern haben ihre Haupteinnahmequelle verloren, zumal die einfache Formel "legale Produkte ersetzen Koka" nicht aufgeht, da, was das Einkommen anbetrifft, Koka unschlagbar ist. Kokabauern verlassen ihr Land und verlagern die Produktion in andere, weniger stark kontrollierte Gebiete. Kritisiert werden auch die massiven Umwelt- und Gesundheitsschäden, die durch die bei der Vernichtung eingesetzten Pestizide verursacht werden. Insgesamt betrachtet hat sich die Situation der Kokawirtschaft in den Andenländern kaum verändert . "Der hauptsächlich von den USA finanzierte "war on drugs" verschärfte vielmehr die bestehenden Konflikte und schürte aufgrund von unterschiedlichen Herangehensweisen in der Drogenpolitik Feindseligkeiten zwischen Nachbarn". (L. Helfrich)


Literatur

  • Helfrich, L.: Wie erfolgreich ist der "Krieg gegen Drogen" in der Andenregion. In: GIGA Focus Nr. 10, 2009; unter: www.giga-hamburg.de/giga-focus
  • Helfrich, L.: Gewalt und Unsicherheit: Von Guerillos, Drogenbaronen und Tätern in Uniform. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Lateinamerika verstehen lernen. Bonn 2010, S. 149 - 172
  • Hoffmann, K. D.: Die heilige Pflanze der Inkas und der "war on drugs" in den Andenstaaten. In: Agora H. 2-1997, S. 19 - 23
  • Müller, P.: Koka-Wirtschaft und alternative Entwicklung in Chapare/Bolivien. In: Geographische Rundschau H. 6/1999, S. 335 - 340



Quelle: Geographie Infothek
Autor: Norbert von der Ruhren
Verlag: Klett
Ort: Leipzig
Quellendatum: 2012
Seite: www.klett.de
Bearbeitungsdatum: 14.02.2012