Christoph Kolumbus oder Amerigo Vespucci? Wer entdeckte wirklich Amerika?


Wer entdeckte Amerika? Keine Frage! Natürlich war es Christoph Kolumbus, der im Bestreben auf dem westlichen Seeweg von Europa nach Ostasien zu gelangen 1492 auf einer Insel der Bahamas landete. Aber welche Verdienste müssen dem Seefahrer Amerigo Vespucci zugeschrieben werden, der fast zur gleichen Zeit, in der Kolumbus seine Entdeckerfahrten unternahm, große Teile der brasilianischen Ostküste erforschte und nach dem der "Neue Kontinent" seinen Namen Amerika erhielt? Oder war der eigentliche Entdecker Amerikas der Isländer Leif Eriksson, der schon 500 Jahre zuvor in Neufundland den amerikanischen Boden betreten hatte?

Nur wenige Irrtümer hielten sich in der Geschichte Amerikas so hartnäckig wie die, dass es Christoph Kolumbus war, der als erster Europäer amerikanischen Boden betrat, dass es also sein Verdienst sei, den amerikanischen Doppelkontinent entdeckt zu haben. Die erstmalige Entdeckung Amerikas erfolgte vielmehr durch Völker aus Nordostasien, die vor etwa 12.000 Jahren über die Beringstraße nach Alaska einwanderten und von dort aus weite Gebiete sowohl Nordamerikas als auch Südamerikas besiedelten.
Nun gut, es waren Asiaten; aber war nicht doch Kolumbus der erste Europäer auf amerikanischem Boden? Die Frage muss eindeutig mit "nein" beantwortet werden. Archäologische Untersuchungen in der kanadischen Provinz Neufundland belegen, dass schon ca. 500 Jahre vor Kolumbus eine Gruppe isländischer Wikinger unter der Leitung von Leif Eriksson dort an Land gegangen waren und überwintert hatten. In der Folgezeit unternehmen die Wikinger mehrere Niederlassungsversuche, die aber allesamt nicht von Dauer waren. Belegt sind ferner gelegentliche Besuche bis Mitte des 14. Jahrhunderts, wahrscheinlich um den Holzbedarf in der waldarmen Heimat Grönland zu decken. Wikinger betraten vermutlich auch Neuschottland (Nova Scotia) und Neuengland und gründeten dort einige kleinere Siedlungen. Frauenmangel und Kämpfe mit den Ureinwohnern zwangen sie jedoch, diese Siedlungen nach wenigen Jahren wieder aufzugeben und so verloren sie schon bald die Verbindung zum neuen Kontinent.

Es war eine der folgenreichsten Fehlleistungen in der Geschichte der Navigation: Kolumbus suchte die legendären Reichtümer Asiens - und fand Amerika. Mit völlig falschen Koordinaten bricht er vom spanischen Hafen Palos nach Westen auf. Etwa 6.000 km liegen nach seiner Berechnung zwischen den Azoren und Indien. Nach einem vierwöchigen Aufenthalt auf den Kanarischen Inseln erreicht er am 12, Oktober 1492 die kleine Bahama-Insel Guanahani. Er denkt, er habe Asien erreicht und durchkreuzt mit seinen drei Schiffen bis Mitte 1493 die karibische Inselwelt. Er unternimmt noch drei weitere Amerika-Fahrten. Auf seiner zweiten Reise gründet er auf der Insel Hispaniola an der Nordküste der heutigen Dominikanischen Republik die erste Kolonie der Neuen Welt: La Isabela (1493), und auf seiner vierten Fahrt betritt er am 25. September 1502 im heutigen Costa Rica den Boden Mittelamerikas. Sein Verdienst ist es, einen Großteil der Karibik erkundet zu haben und dass von ihm letztlich die Erkundung und Besiedlung des Kontinents durch die europäischen Nationen ausging – keine gute Zeit für die Ureinwohner, die von den Eroberern ausgebeutet, unterdrückt und vernichtet wurden. Seinen Navigationsfehler hat er nie eingesehen. Bis zu seinem Lebensende unterlag er dem Irrtum, eine Route auf dem Seeweg nach Indien entdeckt zu haben. Er war allerdings nie der Meinung, auch wenn dies immer wieder zu lesen ist, Indien selbst erreicht zu haben. Betreten hatte er lediglich die dem amerikanischen Festland vorgelagerte Inselgruppe, die "Westindischen Inseln".

Kurz bevor Kolumbus 1506 starb, erschien ein kleines Buch, das in Europa begeistert aufgenommen wurde: Mundus Novus (die Neue Welt). Verfasst hatte es der italienische Kaufmann und Seefahrer Amerigo Vespucci. Vespucci hatte zwischen 1499 und 1502 auf zwei Seereisen große Teile der Ostküste Südamerikas von Guayana bis zum Rio de la Plata erforscht. In einem offenen Brief, eben jenem Mundus Novus, an die Bankiersfamilie der Medici, die die Reise finanziert hatte, berichtet er überschwänglich von den dort vorgefundenen "paradiesischen" Zuständen. Unter anderem schreibt er: "Dort erkannten wir, dass dieses Land keine Insel, sondern ein Kontinent ist, da sich sowohl seine Küsten weithin erstrecken, ohne es jedoch zu umschließen, als auch das Land von unendlich vielen Bewohnern besiedelt ist." Die Echtheit des Briefes – man vermutet, dass das Buch Mindus Novus von einem findigen Buchdrucker auf der Basis des Buches geschrieben wurde - wird zwar bezweifelt. Dennoch galt das Buch lange als ein bedeutendes Werk der wissenschaftlichen Geographie. Zu Lebzeiten Vespuccis wurde das Buch jedenfalls nicht in Frage gestellt.

Es war die Veröffentlichung des Mundus Novus, die den deutschen Kartographen Martin Waldseemüller dazu brachte, auf seiner im Jahre 1507 gezeichneten Weltkarte, der Universalis Cosmographia, den neuen Kontinent "America" zu nennen. Im Vorwort zu seiner Universalis Cosmographia lesen wir: "Nun in Wahrheit wurden diese Teile der neuen Welt besonders erkundet und ein weiterer Teil von Americus Vesputius entdeckt...und es ist nicht einzusehen, warum jemand es verbieten sollte, das neue Land Amerige, Land des Americus, zu nennen, nach seinem Entdecker Americus, einem besonders scharfsinnigen Mann, oder America, da sowohl Europa als auch Asien ihre Namen von Frauen haben."
Die Namensgebung "Amerika" nach Amerigo Vespucci ist demnach also gerechtfertigt, da Vespucci erkannte, dass es sich bei den von Kolumbus entdeckten Kapverden lediglich um Inseln handelte, die einem eigenen Kontinent, der "Neuen Welt", vorgelagert sind.



Amerigo Vespucci – Illustration des Kartographen Martin Waldseemüller

Die in der Überschrift gestellt Frage könnte man also wie folgt beantworten: Der Isländer Leif Eriksson hat als erster Europäer den amerikanischen Kontinent betreten; Kolumbus hat ihn wiederentdeckt, aber nicht als eigenständigen Kontinent gesehen; es war Vespucci, der ihn als solchen erkannt hat.


Quelle: Geographie Infothek
Autor: Norbert von der Ruhren
Ort: Leipzig
Quellendatum: 2012
Seite: www.klett.de
Bearbeitungsdatum: 26.02.2012