Indigene Völker Südamerikas zwischen Marginalisierung und Selbstbestimmung


Der Begriff "indigen", Unterdrückung und Armut, Emanzipationsbemühungen



Indigenen-Markt in Chinchero, Peru (von der Ruhren)

Unsere Vorstellungen von der Bevölkerung Südamerikas sind vielfach verzerrend einseitig. Vor unseren Augen stehen Bilder, wie etwa von "Indios", die in ihren bunten Trachten in den Fußgängerpassagen unserer Städte Panflöte spielen, oder von "Amazonasindianern", die mit Blasrohr, Pfeil und Bogen im tropischen Regenwald auf Jagd gehen bzw. im primitiven Brandrodungsfeldbau ihre kärglichen Nahrungsmittel erzeugen. In Wirklichkeit ist Südamerika jedoch ein multiethnischer und multikultureller Kontinent, ein indigener und ein europäischer Kontinent zugleich. Anders als in Nordamerika, wo die Ureinwohner, die Indianer, von den europäischen Siedlern rücksichtslos bekämpft, vertrieben oder ausgerottet wurden, bedeutete die Landnahme durch die Spanier und Portugiesen keineswegs eine gänzliche Vernichtung der indigenen Kulturen. Zwar wurde auch hier die indigene Bevölkerung nach der Eroberung versklavt, ermordet oder sie starb an eingeschleppten Krankheiten, so dass nach Schätzungen mehr als zwei Drittel der Indigenen die Conquista nicht überlebten. Viele Indigene flüchteten sich jedoch in einsame Regionen, z.B. des tropischen Regenwaldes, oder in abgelegene Hochtälern der Anden bzw. des östlichen Andenvorlandes. Andere gingen Bündnisse ein und vermischten sich mit den Weißen. Dadurch und durch den "Import" afrikanischer Sklaven für die Plantagenwirtschaft sowie die Immigration von Europäern und Asiaten im 19. Jahrhundert wurde Südamerika ein Kontinent vielschichtiger Verschmelzungs- und Überlagerungsgesellschaften. Wenn man ein gemeinsames Charakteristikum der Länder Südamerika nennen soll, dann ist es – neben der gemeinsamen iberischen Sprache - sicherlich die weitgehende "Mestizierung" von Gesellschaft und Kultur. Korrekt ist aber auch, dass, bedingt durch die starken naturräumlichen Gegensätze, in einem geographischen Gebiet, das von den Tropen an der Karibikküste bis zu kühlgemäßigten Zone Feuerlands und vom Andenhochland bis zu den Sumpfgebieten der Amazonasmündung reicht, keine grundsätzlichen Gemeinsamkeiten der Kulturen zu erwarten sind.


Wer ist ein "Indigener"?

Mit dem Begriff "Indigene" - er ersetzt heute mehr und mehr den in Lateinamerika lange Zeit gebräuchlichen Begriff "Indio", da dieser von vielen als diskriminierend empfunden wird - bezeichnet man die Ureinwohner eines Landes bzw. deren Nachkommen. Im gesamten Lateinamerika, also den Ländern Mittelamerikas, der Karibik und Südamerikas zusammen, gibt es über 400 ethnische Gruppen und Völker. Es existieren außerdem mehr als 700 indigene Sprachen. Der Anteil der indigenen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Lateinamerikas wird auf 8 bis 12 Prozent geschätzt, das entspricht 40 - 50 Millionen Menschen. Die meisten von ihnen leben in den Ländern Mexiko, Guatemala, Ecuador, Peru und Bolivien. Brasilien weist auf seinem Territorium mit mehr als 170 Sprachen zwar die größte Vielfalt auf, der Anteil der Indigenen an der Gesamtbevölkerung ist jedoch mit weniger als einem Prozent gering.



Alle Angaben über die Zahl der Indigenen sind jedoch mit äußerster Vorsicht zu interpretieren, da es keine verbindliche Definition gibt und da bei den statistischen Erhebungen ganz unterschiedliche Kriterien für die Einordnung bzw. Abgrenzung zu anderen Ethnien und Volksgruppen zugrunde gelegt werden. So stützen sich einige Länder bei der Erhebung auf die Herkunft, die Sprache oder auf biologische Merkmale, in anderen legt man die jeweils persönliche Einschätzung der Befragten zugrunde. So sind auch die Angaben in der obigen Tabelle nur bedingt zu vergleichen - zumal es vielfach um Schätzungen handelt.
Eine ausführliche Begriffsbestimmung lieferte der UN-Sonderberichterstatter José Martinez-Cobo in einer 1986 erschienenen Studie über die Diskriminierung indigener Völker. Darin benennt er die folgenden vier Kriterien: Indigene sind die ersten Bewohner eines Gebietes. Sie bewahren freiwillig ihre kulturelle Eigenständigkeit und unterscheiden sich damit deutlich von der herrschenden Gesellschaft. Sie identifizieren sich selbst als "indigen" und werden als solche auch anerkannt. Sie haben Unterdrückung, Enteignung oder Ausschluss aus der nationalen Gesellschaft erfahren, wobei die Unterdrückung noch heute fortbestehen kann.


Unterdrückung und Armut

Viele Kritiker sehen in der Bezeichnung "indio" und "indigena" ein Konstrukt der kolonialen Herrschaftsideologie, das dazu diente, die unterworfenen Völker rechtlich und ideologisch auszugrenzen. Die soziale Hierarchie war klar: An der Spitze standen die Spanier, sonstige Europäer und ihre in Lateinamerika geborenen Nachkommen, die Kreolen. Dann folgten die Mestizen, die bestrebt waren in einem Prozess der Assimilierung sozial aufzusteigen. Am unteren Ende befanden sich die indigene Bevölkerung sowie verschleppte schwarze Sklaven.
Ein perfides Mittel der Unterdrückung war das "Encomienda-System". Begünstigte Kolonisten erhielten von der spanischen Krone nicht nur Land oder die Rechte zum Abbau von Edelmetallen, sondern auch die nötigen Arbeitskräfte. Diese waren tributpflichtig und wurden als Leibeigene gehalten. In vielen Gegenden blieb das Encomienda-System bis weit ins 17. Jahrhundert erhalten.
Auch in den nach der Unabhängigkeit Anfang des 19. Jahrhunderts neu gegründeten Republiken änderte sich wenig am sozialen Status der Indigenen. In ihrem Befreiungskampf von Spanien hatten die Kreolen die Indigenen zwar einbezogenen, indem sie deren kulturelle Leistungen aus der vorkolonialen Zeit, vor allem die der Mayas, Inkas und Azteken, hervorhoben. Dies diente jedoch vor allem der Propaganda, um die Überwindung von Unfreiheit als Ziel der Befreiungsbewegung herauszustellen. Eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Gleichstellung brachte die neue politische Ordnung für die Masse der Indigenen jedenfalls nicht. So stellen sie in den meisten lateinamerikanischen Ländern bis zum heutigen Tag eine benachteiligte Randgruppe dar. Armut, Marginalisierung und Diskriminierung sind die verbindenden Kennzeichen der Mehrheit der indigenen Völker Südamerikas. Das gilt für die städtische, aber mehr noch für die ländliche Bevölkerung. Armut ist Ursache für mangelnde Schulbildung und fehlenden Zugang zu sozialen Diensten. Dies bewirkt wiederum einen weitgehenden Ausschluss von der Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen und am allgemeinen wirtschaftlichen Fortschritt. Der Teufelskreis schließt sich.


Indigene Emanzipationsbestrebungen

In allen Ländern Südamerikas haben Indigene Gruppen inzwischen nationale Organisationen gegründet, um ihre Interessen besser vertreten zu können. Einen Meilenstein im Hinblick auf ihre rechtliche Anerkennung stellt die 1989 von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vorgelegte Konvention über "eingeborene und in Stämmen lebende Bevölkerung in unabhängigen Staaten" dar. In dieser Konvention werden Grundrechte definiert, wie z.B. das Recht auf Selbstbestimmung, auf Mitbestimmung über die Nutzung natürlicher Ressourcen, auf Zugang zu Bildung und zum Gesundheitswesen sowie auf soziale Absicherung. Inzwischen folgen viele Staaten Lateinamerikas dieser Konvention und haben in ihren Verfassungen einige grundlegende Rechte der indigenen Bevölkerung festgeschrieben. Umgesetzt werden sie aber zumeist nur zögerlich, wenn überhaupt.
Unterstützung finden die Indigenen in ihren Emanzipationsbestrebungen u.a. von zahlreichen Nichtregierungsorganisationen (NROs), Kirchen und entwicklungspolitischen Institutionen. Die Initiativen reichen von Bildungsprogrammen, über Förderprogrammen z.B. zur nachhaltigen Landbewirtschaftung bis hin zu Rechtshilfen. Die 1990er Jahre werden vielfach als das "Jahrzehnt der indigenen Bewegungen" bezeichnet. Am 500. Jahrestag der Eroberung Lateinamerikas (1992) fanden sich indigene Gruppen auf dem gesamten Kontinent zu Kundgebungen und Veranstaltungen zusammen – im Protest gegen Unterdrückung und im Kampf um ihre politischen Rechte. Die stärksten indigenen Bewegungen verzeichneten die Länder Ecuador und Bolivien. In Ecuador, das auf eine besonders lange indigene Bewegung zurückblicken kann, stellen Indigene inzwischen Bürgermeister, Abgeordnete im Parlament, und Regierungsvertreter. In Bolivien wurde 2005 erstmals in der Geschichte des Landes ein Indigener zum Präsidenten gewählt: Evo Morales, ein Angehöriger des Volkes der Aymara.


Literatur

Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (Hrsg.): Indigene Völker in Lateinamerika und Entwicklungszusammenarbeit. Eschborn 2004; unter: http://www.gtz.de/en/dokumente/de-Reader_komplett.pdf
Feldt, Heidi und Michael May: Indigene Völker: Zwischen Diskriminierung und Emanzipation. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Lateinamerika verstehen lernen. Bonn 2010, S. 173 - 194
Internationale Weiterbildung und Entwicklung InWent und Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (Hrsg.): Indigene Völker in Lateinamerika. Düsseldorf, Eschborn 2005; unter: http://www.heidi-feldt.de/Unterrichtsmaterial_Indigene_Voelker_6MB.pdf
Ströbele-Gregor, Juliana: Indigene Emanzipationsbewegungen in Lateinamerika. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 51-52/2006 vom 18.12.2006


Quelle: Geographie Infothek
Autor: Norbert von der Ruhren
Ort: Leipzig
Quellendatum: 2012
Seite: www.klett.de
Bearbeitungsdatum: 08.02.2012