Infoblatt Die Philosophie des Sokrates


Die Polis - das Gesellschaftsmodell nach Sokrates

Sokrates war einer der ersten praktischen Philosophen der Welt. Er lebte in einer Zeit der allgemeinen politischen und moralischen Destabilisierung. Dem setzte er eine völlig neue Auffassung vom Zusammenleben der Menschen in einem neuen Gesellschaftsmodell – der Polis – gegenüber. Die Polis als Grundform eines demokratischen Staatsmodells war ein auf Stabilität ausgerichtetes Gemeinwesen. Stabil konnte sie, so Sokrates, nur durch ihre Bürger sein, die Gemeinwohl vor Eigennutz zu stellen und ihre Seele ständig zu vervollkommnen hatten.

Die Seele war für ihn das Eigentliche, das Selbst, am Menschen. Er verstand sie als diejenige Instanz im Menschen, die für das sittliche Handeln entscheidend ist. Wer einerseits sittlich handelt, kümmert sich nicht nur im besten Sinne um sich selbst, sondern bemüht sich damit stets um das sittlich Gute. Wer sich andererseits um das sittlich Gute bemüht, entwickelt zugleich sein Selbst und kommt somit seinem Lebensglück (eudaimonia) stetig näher. Umgekehrt schadet der, der nicht so handelt, sich selbst und macht sich unglücklich.

Damit gelangte Sokrates sofort zur nächsten seiner philosophischen Grundfragen: Was ist das sittlich Gute? Ihre Beantwortung setzt zuallererst einmal Wissen voraus, d. h. nur über Wissen kann der Mensch das sittlich Gute erkennen. Hat er es erkannt, dann wird der Mensch sich in seinem ureigensten Interesse (im Interesse seines Selbst) um das sittlich Gute bemühen. Für Sokrates war klar, dass jeder, wenn er um das sittlich Gute erst einmal weiß, es dann mit Notwendigkeit auch tut. Dagegen fehlte es allen Menschen. die das sittlich Gute nicht taten, nach seiner Überzeugung nur am Wissen darum.

Bei seinem Wissensbegriff unterschied Sokrates zwei Varianten: ein allgemeines und unfehlbares Wissen, das unverrückbare und unanfechtbare Normen für das Handeln bereitstellt, sowie ein partielles und vorläufiges Wissen, das sich in jedem Fall immer als begrenzt und damit fehlerhaft erweist. Der Mensch verfügt allein über partielles und vorläufiges Wissen, während ihm das allgemeine und unfehlbare Wissen versagt bleibt. Deshalb prägte Sokrates auch den Grundsatz, dass der Mensch nicht gut und einsichtig zu sein hat, sondern so gut und einsichtig wie möglich sein soll.

Damit beantwortete Sokrates die zentrale Frage der Philosophie nach der Erkennbarkeit der Welt auf seine Weise: Der Mensch ist zur Erkenntnis und zum Erkennen des sittlich Guten fähig. Aber da der Mensch allein über partielles und vorläufiges Wissen verfügt, kann er das sittlich Gute auch stets nur teilweise, niemals aber vollständig erkennen. Die vollständige Erkenntnis des sittlich Guten, lehrt Sokrates, bleibt allein einem Gott vorbehalten, der auch als einziger über das dazu notwendige allgemeine (unfehlbare) Wissen verfügt.

Aus dem Unterschied zwischen dem begrenzten menschlichen und dem universalen bzw. vollständigen göttlichen Wissen leitete Sokrates eine Grundaufgabe für den Menschen her: Trotz der Einsicht, dass er niemals allgemeines (unfehlbares) Wissen erlangen wird, muss der Mensch stets die Grenzen seiner Erkenntnis (seines Wissens) hinauszuschieben versuchen. Je weiter er es in dieser Bemühung bringt, desto besser und glücklicher wird er leben.

Wie schwer es sein musste, diesen Grundsatz in die Tat umzusetzen, erlebte der Philosoph selbst schmerzlich in seinen unzähligen Disputen. Als Haupthindernis erkannte Sokrates die Einstellung seiner Zeitgenossen, die alles bereits hinreichend genau zu wissen glaubten. Dementsprechend begegneten ihm die Athener in seinem Drang nach öffentlichen Streitgesprächen: Man sah sie meist als überflüssig, lästig oder provozierend an.

Doch für Sokrates waren diese Gespräche eine Mission, mit der er seine Mitbürger auf den Weg der Selbsterkenntnis bringen wollte. Das Gespräch begann wahrscheinlich immer damit, dass Sokrates seine Gesprächspartner durch Fragen zu der Einsicht von der Begrenztheit und Unzulänglichkeit ihres Wissens bringen wollte. Der Philosoph bezeichnete den Anfang seiner Gespräche als die Phase der Destruktion. Sie war der wohl schwierigste Teil der Gespräche, denn die Angesprochenen wollten sich auf keinen Fall in aller Öffentlichkeit als unwissende Dummköpfe bloßgestellt sehen. Das aber lag gar nicht in der Absicht des Philosophen: Er brauchte die Einsicht seiner Gesprächspartner in die eigene Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit ihres Wissens für den nachfolgenden "Neuaufbau".

Der "Neuaufbau" bestand in der Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Menschen. Nach Sokrates ist das eigentliche Selbst des Menschen seine Seele. Wenn sein Gesprächspartner das verstanden hatte, diskutierte der Philosoph mit ihm die sich daraus ergebenden Konsequenzen, hielt ihn dazu an, nur das sittlich Gute zu tun und immer so gut und einsichtig wie möglich zu sein. Die wichtigste Voraussetzung dazu blieb allerdings das ständige Bestreben ein stets genaueres Wissen darüber zu erlangen, was das Gute ist.

Zu dem erstrebten Wissen konnte man nach Sokrates nur gelangen, wenn die eigenen Ansichten über das Gute immer wieder neu und schonungslos kritisch geprüft wurden. Nur Ansichten, die solchen strengen Prüfungen wiederholt standgehalten hatten, ließ er als wirkliches Wissen gelten.

Dass ein Mensch, wenn er sich nicht selbst schaden will, niemals vorsätzlich Unrecht tun darf, gehörte bei Sokrates zu den Erkenntnissen mit einem hohen Grad an Gewissheit. Ein Mensch darf auch dann nicht mit Unrecht antworten, wenn ihm selbst Unrecht zugefügt worden ist, denn Unrecht zu tun war für Sokrates das Schlimmste, was es für einen Menschen gibt.

Diese Überzeugung bildete die Plattform für die politischen Betrachtungen von Sokrates über die antike Gemeinschaft (Polis). Er stellte die Grundsatzfrage, wie man sich als einzelner Angehöriger der Gemeinschaft gegenüber deren Forderungen und Geboten zu verhalten habe. Diese Frage beantwortete der Athener gegenüber seinen Mitbürgern klar und präzise: Im Prinzip ist jeder Bürger verpflichtet, allen Geboten und Gesetzen aller Institutionen der Gemeinschaft (Polis) und deren Vertretern Folge zu leisten.

Das Prinzip gilt uneingeschränkt auch dann, wenn öffentliche Forderungen und Gebote mit der Bedrohung oder Gefährdung der eigenen Person einhergehen. Sokrates ließ für die Gültigkeit seines politischen Grundprinzips nur eine Ausnahme zu: Der Einzelne darf sich dann verweigern und widersetzen, wenn ein Gebot oder eine Forderung der Gemeinschaft ihn zwingt, Unrecht zu begehen oder sich daran zu beteiligen.

Mit seinen philosophisches Kernaussagen erbaute Sokrates ein Gedankengebäude in völlig neuen Dimensionen. Sie haben die Zeiten überdauert und bestimmen noch heute die Grundwerte der modernen postindustriellen Gesellschaften. Schon deshalb darf man den Athener Sokrates getrost als einen der größten Denker in der Geschichte der Menschheit bezeichnen.


Quelle: Geographie Infothek
Autor: Dr. Klaus-Uwe Koch
Verlag: Klett
Ort: Leipzig
Quellendatum: 2012
Seite: www.klett.de
Bearbeitungsdatum: 27.05.2012