Der Norden Kanadas - ökologische Gegebenheiten


Kanada, Ökologie, Permafrostboden, Tundra, borealer Nadelwald

Der Norden ist für Kanada flächenmäßig und ökologisch der bedeutendste Naturraum. Noch immer ist dies vielen der im Süden lebenden Kanadier unzureichend bewusst, und nur langsam beginnt sich bei der Bevölkerung die generelle Einstellung gegenüber dem Norden und seiner Nutzung zu ändern. Noch vor 20 Jahren sahen die meisten Kanadier den Norden einseitig als riesigen, nahezu unerschöpflichen Raum, der nur auf Erschließung wartete. The "last modern frontier" war ein Schlagwort, das viele Aktivitäten begleitete. Beispielhaft dafür war das "Mid-Canada-Projekt", ein gigantischer Entwicklungsplan, der fast den gesamten borealen Waldgürtel erfasste.

Rohmers Veröffentlichung, die in Kanada weite Beachtung fand, ging davon aus, dass es weniger ökologische Probleme seien, die einer intensiveren Nutzung des (mittleren) Nordens im Wege stünden, als vielmehr psychologische, die auf falschen Vorstellungen über die klimatischen Verhältnisse beruhen würden. Bedenken ökologischer Art und Einwände der in erster Linie betroffenen Ureinwohner waren zu dieser Zeit noch verhalten und wurden nicht wahrgenommen.
Diese Situation hat sich zwischenzeitlich geändert. Heute erkennen immer mehr Kanadier, dass der Norden Kanadas ein einzigartiger Naturraum ist, der nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen werden darf.

Die Flächengröße und die geringe Einwohnerzahl des kanadischen Nordens verführten und verführen jedoch immer wieder zu der Vorstellung, dass ökologische Probleme vernachlässigt werden könnten. Die so häufig zitierte "unendliche Weite" Kanadas erfährt man in der Tat am eindringlichsten im Norden, wo häufig nur vereinzelt Spuren menschlicher Aktivitäten wahrgenommen werden können.
Wenn man vom Norden spricht, muss man zunächst daran erinnern, dass im Mittleren und Fernen Norden (Begriffsbildung aus der Sicht des Südens!) mindestens drei ökologische Großzonen zu unterscheiden sind: borealer Nadelwald, subarktischer Tundra-Waldübergang und Tundra. Jede Zone ist nach wichtigen physiogeographischen Strukturen weiter zu unterteilen.

Greift man das Tundra-Ökosystem heraus, so kann man vereinfachend festhalten, dass hier extreme natürliche Verhältnisse bestehen. Im Jahresverlauf wechselt nicht nur Polarnacht mit langem, kaltem Winter und Polartag mit kurzem, kaltem Sommer in Abhängigkeit von der geographischen Breite, sondern überaus häufig die 0 °C-Grenze. Diese Schwankung ist für alle Bodenprozesse sehr kritisch. Trotz der geringen Niederschläge herrscht wegen der meist niedrigen Temperaturen eine hohe relative Luftfeuchtigkeit vor. Andererseits führt der beständige, häufig scharfe Wind zu einer hohen Verdunstung an der Oberfläche, wobei gleichzeitig über dem Permafrost Feuchtigkeitsübersättigung im Boden herrschen kann.



Schnitt durch einen Permafrostboden im nördlichen Kanada (Klett)

Diese scheinbaren Widersprüche spiegeln sich kleinräumig in erheblichen Abweichungen von einem theoretisch postulierten einheitlichen Ökotyp wider. Nur geringe Unterschiede in Relief, Bodenbeschaffenheit oder Exposition führen zur Dominanz eines ökologischen Faktors. Prozesse und Wechselwirkungen in diesem Ökosystem sind im einzelnen sehr kompliziert und mahnen zur großen Vorsicht bei jedem menschlichen Eingriff.


Quelle: Länderprofil Kanada
Autor: Roland Vogelsang
Verlag: Klett-Perthes
Ort: Gotha
Quellendatum: 1993
Seite: 100/101
Bearbeitungsdatum: 15.05.2006