Infoblatt Die europäische Stadt


Aufbau, Struktur, Geschichte und Funktion der europäischen Stadt



Florenz (Photodisc)

Die Anfänge städtischer Siedlungsentwicklung in Europa sind bis in die klassische Antike zurückzuverfolgen. Im geschichtlichen Wandel haben sich Grund- und Aufriss der europäischen Städte mit den jeweils konstituierenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fortlaufend verändert. Je nach Entstehungszeit und damaliger Funktion der Städte sind die charakteristischen städtebaulichen Elemente und historischen Strukturen bis heute z. T. noch prägend für Europas Städte im 21. Jahrhundert. Deswegen kann auch nicht von "der europäischen Stadt" gesprochen werden. Eine Möglichkeit Städte zu klassifizieren, ist die Einordnung nach kulturhistorischen Stadttypen. Diese Form der Typologie steht im engen Zusammenhang mit den jeweiligen Entwicklungsstufen und politischen Organisationsformen der jeweiligen Gesellschaft und Wirtschaft.


Antike Städte

Die europäische Stadtgeschichte begann mit den griechischen Stadtstaaten, welche als Ausdruck von Machtkonzentration und Schutzmaßnahmen entstanden. Bereits für diese Epoche lässt sich die räumliche Nähe von Wirtschafts- und Verwaltungsfunktion innerhalb der Stadt feststellen. Typisch waren nicht nur die Selbstverwaltung der Polis, sondern auch Demokratie und Gleichberechtigung einiger Bevölkerungsschichten. Der Marktplatz und die Tempelanlagen bildeten in aller Regel die zentralen Orte der Stadt.
Mit dem Aufstieg des Römischen Reiches seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. wurden zahlreiche Städte neu gegründet. Hauptzweck dieser Planstädte war der Erhalt und Ausbau der militärischen Macht in den besetzten Gebieten. Bekannte Römerstädte in Deutschland sind z. B. Köln, Mainz und Trier. Der schachbrettartige Grundriss der Römischen Städte ähnelt dem griechischen Vorbild. Die Städte wurden auf das Römische Castrum (Feldlager, Kriegslager) hin ausgerichtet. An den von hier im rechten Winkel zueinander verlaufenden Hauptachsen waren in der Regel das Römische Forum sowie andere öffentliche Gebäude gelegen. Kennzeichen für den Römischen Städtebau sind die für die damalige Zeit gut ausgebauten Straßen, die einheitlichen regelmäßigen Flurformen und die berühmten Aquädukte (Wasserleitungen).


Mittelalterliche Bürgerstädte

Mit dem Zerfall des Römischen Reiches begann die Entwicklung des mitteleuropäischen Städtesystems ab 900 bis ungefähr 1100 n. Chr. Durch einen allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung und einer beträchtlichen Zunahme der Bevölkerung entstanden vornehmlich um Burgen, kaiserliche Pfalzen und Klöster neue Siedlungen. Diese Neugründungen und das Wachstum von Städten sowie die überregionalen Handelsbeziehungen waren Ausdruck einer verstärkten Arbeitsteilung der damaligen Bevölkerung. Charakteristisch für mittelalterliche Städte sind der unregelmäßige Straßenverlauf, mehrstöckige Häuser und eine extrem dichte Bebauung. Diese ausgeprägte Enge von Wohn- und Wirtschaftsverhältnissen entstand durch die Befestigung der Städte mittels Stadtmauern und Wehranlagen. Der Bau solcher Befestigungsanlagen war teuer und Erweiterungen dementsprechend auch. Um die Kosten gering zu halten, war das Wachstum weitgehend auf den Bereich innerhalb des Stadtmauerrings beschränkt. Am zentral gelegenen Marktplatz standen die Kirche, das Rathaus und die wenigen Steinhäuser der wohlhabenden Familien. Für mittelalterliche Städte war besonders die Stadtrechtsverleihung von Bedeutung.


Residenzstädte

Im 14. und 15. Jahrhundert verloren die mittelalterlichen Städte an Bedeutung. Die Ursachen dafür waren vielfältig. Vornehmlich Brände, (Pest-)Epidemien und Kriege, wie beispielsweise der Dreißigjährige Krieg, dezimierten die Bevölkerung und verursachten Zerstörungen der Städte. Die große Zeit der Neugründungen von Städten war damit vorüber. Die weitgehend unumschränkte Herrschaft des barocken Adels prägte nun stattdessen die Entwicklung des Grund- und Aufrisses der Städte. Das mittelalterliche Bürgertum in den Städten wurde geschwächt und die fürstlichen Höfe bestimmten fortan mit ihren Residenzen die Stadtentwicklung. Die neuen prunkhaften Residenzen wurden oft außerhalb bereits bestehender Städte errichtet. Kam es in der Nähe solcher fürstlichen Residenzen zu Stadtneugründungen, wurde die gesamte Stadtanlage mit ihrem geometrischen Grundriss auf das fürstliche Schloss ausgerichtet. Als Beispiel hierfür kann Karlsruhe genannt werden.


Industriestädte

Ab dem 18. Jahrhundert begann ein sozialer, geistiger und wirtschaftlicher Wandel, der die uralten Traditionen mittelalterlicher und absolutistischer Städte umfassenden Veränderungen unterwarf. Technologische Fortschritte lösten eine Steigerung der Industrieproduktion aus und die verbesserten Hygienebedingungen hatten ein bis dato unbekanntes Bevölkerungs- und Städtewachstum zur Folge. Die Bauernbefreiung und bessere Verdienstmöglichkeiten verursachten eine hohe Migration der ländlichen Bevölkerung in die Städte. Dadurch kam es zu einem enormen Bevölkerungsdruck in den städtischen Agglomerationen. Neue Produktionsstätten der Industrie entstanden in den damaligen Außenbereichen der Städte und häufig wurden in der unmittelbaren Nähe auch die Siedlungen der Arbeiter errichtet. Dennoch kam es zu einer fortschreitenden funktionalen Trennung von Wohnen und Arbeiten, eine bis heute ungebrochene Entwicklung. Die wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen wohnten häufig im westlichen Gebiet der Stadt, um geschützt durch die Westwinde von den Emissionen der Industriestandorte zu leben. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde mit dem umfassenden Bau des öffentlichen Nahverkehrs begonnen. Die Errichtung von U- und S-Bahnlinien ermöglichte nicht nur eine bessere Erschließung der Stadtviertel, sondern verstärkten auch das Flächenwachstum der Städte enorm. Dörfer wurden zu Städten (wie z. B. im Ruhrgebiet) und Städte verschmolzen zu Ballungsräumen.


Die neue Stadt

Das 20. Jahrhundert ist von einer Vielfalt und Unterschiedlichkeit der städtebaulichen und architektonischen Stilrichtungen geprägt. Im Wesentlichen können zwei Hauptströmungen der Stadtentwicklung beobachtet werden. Zum einen der urbane Stil der geschlossenen Bebauung, der häufig eine gerasterte Grundrissgestaltung und einen hohen Überbauungsgrad mit einer enormen Bevölkerungsdichte aufweist. Dem gegenüber steht der antiurbane Stil der aufgelockerten Stadt. Diese Idee wurde z. B. durch die Gartenstädte verwirklicht, in denen eine offene Einzelhausbebauung mit durchgezogenen Grünzügen kennzeichnend ist. Die kompakte urbane Stadt dagegen war Leitbild der Stadtentwicklung bis in die 1970er Jahre hinein. Heute werden diese Leitbilder erneut in moderner Weise idealisiert und auch städtebaulich realisiert. Unter anderem in sozialistischen und südeuropäischen Städten wurden die Ideen des Bauhauses in Großwohnsiedlungen und der Plattenbauweise umgesetzt. Der Bevölkerungsdruck der dort erst später einsetzenden Industrialisierung erforderte diese städtebauliche Entwicklung.
Der Zweite Weltkrieg hatte besonders in den mitteleuropäischen Städten zu enormen Zerstörungen geführt. Aufgrund der Wohnungsnot in den Nachkriegsjahren wurden in ganz Deutschland in industrieller Bauweise ganze „Satellitenstädte“ hochgezogen, die rasch und günstig Wohnraum schafften, aber gleichzeitig auch eine starke Funktionstrennung mit sich brachte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden gemäß den jeweiligen Leitbildern der vorherrschenden Gesellschaftssysteme teilweise alte Strukturen wiederhergestellt. Häufig wurde jedoch die Möglichkeit zu einer städtebaulichen Umgestaltung genutzt. Eine Lockerung der Bausubstanz mit ausgedehnten Grünzügen und Eingriffe für die Verkehrsplanung zur Schaffung einer autogerechten Stadt waren die Folge.


Die Städte im 21. Jahrhundert

Die Abgrenzung einer allgemeingültigen europäischen Stadtstruktur ist kaum möglich. Im Wesentlichen gliedert sich die europäische Stadt in die City bzw. Altstadt, citynahe Viertel, den einstigen Stadtrand, die Vorortzone und intraurbane Industrie- und Gewerbestandorte. So stehen die europäischen Städte gegenwärtig unter dem Einfluss unterschiedlicher Entwicklungen. So sind einige Städte bzw. Stadtteile wie z.B. marode Großwohnsiedlungen und ehemalige Industrieviertel aufgrund von Abwanderung von Leerstand betroffen, andere sind durch Flächenmangel und enorm steigenden Bodenpreisen gekennzeichnet. In vielen städtischen Ballungsgebieten entzog der jahrzehntelang anhaltende Trend der Suburbanisierung (Eigenheimbau in den Vororten) den Kernstädten viele Einwohner. Heutzutage ist eine Tendenz der Reurbanisierung, also die Rückkehr in die Innenstädte zu beobachten. Viele Städteplaner fördern diese Entwicklung und propagieren eine Stadt der kurzen Wege mit kompaktem Stadtkern.
Aber auch die Kräfte von Globalisierung und Kommerzialisierung prägen die Entwicklung der Städte. Im Wettbewerb der Global Cities kämpfen die europäischen Metropolen mit entsprechenden infrastrukturellen Einrichtungen um die Standortqualitäten für Unternehmen. Trotz der zunehmenden Vereinheitlichung der Stadtentwicklung, wie z. B. die Entstehung von Einkaufszentren nach US-amerikanischem Vorbild im Außenbereich der Städte, konnten die europäischen Städte ihre eigene historisch bedingte Qualität bis dato behalten.


Literatur

BENEVOLO, LEONARDO (1993): Die Stadt in der europäischen Geschichte. München. Beck.
HOTZAN, J. (1994): DTV-Atlas zur Stadt. München.
LICHTENBERGER, E (1998): Stadtgeographie 1.- Stuttgart.


Quelle: Geographie Infothek
Autor: Mirko Ellrich
Verlag: Klett
Ort: Leipzig
Quellendatum: 2012
Seite: www.klett.de
Bearbeitungsdatum: 22.08.2012