Unterrichten von Flüchtlingskindern
Liebe Bücherwurm-NutzerInnen,
in zahlreichen Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern, in Hospitationen und aus Internet-Umfragen haben wir die Herausforderungen, Problemfelder und offenen Fragen zu ermitteln versucht, die sich aus dem Unterrichten mit DaZ-Kindern ergeben. Sie waren für uns der Ausgangspunkt, neues DaZ-Material zu entwickeln - natürlich passend zu Ihrem Bücherwurm.
1) Das Materialproblem: Wo finde ich geeignetes DaZ-Material? Und: Was bedeutet „geeignet“ überhaupt?
Viele von Ihnen suchen nach eigener Aussage händeringend nach passendem Unterrichtsmaterial für die neu hinzugekommenen DaZ-Kinder. Es soll vor allem „umsetzungseinfach“, also selbsterklärend und auf selbstständiges Lernen hin ausgerichtet sein. Schließlich sitzen in Ihren Klassen noch 20 oder mehr deutschsprachige Kinder, die den „ganz normalen“ (schon ausreichend anspruchsvollen) Regelunterricht erwarten und nicht zu kurz kommen wollen/sollen. Oder in Ihrer Sprachlernklasse sind 15 und mehr Kinder völlig unterschiedlicher Alters- und Kompetenzstufen versammelt.
Ihrer Auswahl des Materials geht meist die Frage nach der Eignung für den individuellen DaZ-Schüler voraus, den Sie - wie alle Ihre SchülerInnen - dort abholen wollen, wo er mit seinen Sprachkenntnissen steht: „Wie kann ich die vorhanden Deutschkenntnisse eines Flüchtlingskindes richtig einschätzen? Gibt es einen Test oder ein Kompetenzraster, um (deutsche) Lese- und Schreibfertigkeiten abzuprüfen? Und welche Materialien muss ich dann, je nach Ergebnis, kaufen?“
Denn ein Arbeitsheft, das bereits große Mengen an Schriftsprache beinhaltet, hilft dem absoluten Leseanfänger im Deutschen ebenso wenig weiter wie ein sprachfreies Malheft dem Kind, das bereits erste Lese- und Schreibfertigkeiten erworben hat.
Häufig wurde auch die Frage nach geeigneten (Bild-)Wörterbüchern für DaZ-Lerner und Bilderbüchern oder Bildkarten für die Wortschatzarbeit an uns herangetragen. Der Aufbau eines kindgerechten, alltagstauglichen Wortschatzes wird von Ihnen zu Recht als Schlüssel zu gelingender Kommunikation innerhalb und außerhalb des Unterrichts angesehen. Doch was, wenn die Illustrationen in den gewählten Werken uneindeutig, ständig wechselnd oder nicht kindgemäß sind? Wie soll das geflüchtete Kind verstehen, dass der rot gepunktete Gummiball, der Tennisball, der gestreifte Wasserball und der Fußball alle zusammen das eine Wort „Ball“ symbolisieren sollen?
Es erreichten uns auch ganz pragmatische Wünsche nach Arbeitsblättern oder Listen der wichtigsten Redemittel und „Chunks“, die die DaZ-Kinder quasi auswendiglernen können. Sie sollen die SchülerInnen schnellstmöglich in ihrem neuen Schulumfeld handlungsfähig machen, zum Beispiel indem sie selbstständig um Hilfe bitten, fehlende Gegenstände ausborgen, Freude und Unwohlsein äußern oder einfach nur nach dem Weg zur Toilette fragen können.
Ein besonderes Problem stellt die oftmals fehlende Alphabetisierung von SchülerInnen mit Migrationshintergrund dar, klassische Fibelmaterialien aber hierzu nicht oder nur mit viel Erklärungsmühen eingesetzt werden können. Wie sollen die Kinder in der Kürze der Zeit die häufig Unmengen an deutschem Wortschatz lernen, die ein Standard-Arbeitsheft aus Klasse 1 oder 2 einfach so als bekannt voraussetzt, zum Beispiel als Abhörwörter oder Schreibwörter für die Schreibtabellenarbeit?
Was, wenn das Kind zwar bereits das Abhören und Verschriften eines Wortes gelernt hat, ihm jedoch ganz basal das deutsche Wort zu dem gezeigten Abhörbild im Wortschatz fehlt (zum Beispiel zu dem „klassischen“ Adler beim A/a im Standard-Fibelarbeitsheft, zum Indianer und Osterhasen, zum Zirkus und zur Säge, zum Elch und zum Jojo …)?
2) Die Frage nach den Unterrichtsmethoden: Was tun (und was nicht?!) mit den DaZ-Kindern?
Das Unterrichten von DaZ-Kindern ohne eigene spezielle DaZ-Ausbildung stellt auch Sie als gestandene Lehrerinnen und Lehrer vor neue methodische Herausforderungen, z.B.: „Wie trainiere ich mit meinen DaZ-Kindern das Hörverstehen? Wie vermittle ich die Wortbetonung im Deutschen? Wie baue ich Sprechhemmungen ab?“
Zugleich wollen Sie ihren methodisch „sauberen“ DaZ-Unterricht nicht rein verwissenschaftlicht und verkopft gestalten, sondern vor allem adressatengerecht: spielerisch, motivierend, Lernfreude vermittelnd. Schließlich sollen die Kinder in der neuen Schulsituation nicht nur Unterweisung, sondern auch Geborgenheit, Stabilität und hoffentlich auch wieder Freude und Erfolge erfahren.
Standards des Regelunterrichts werden nun von Ihnen in Frage gestellt: „Ist Schreiben mit der Schreibtabelle überhaupt sinnvoll mit DaZ-Kindern?“ „Wie fühlt sich ein Kind ganz ohne Deutschkenntnisse morgens in unserem Erzählkreis?“ „Wie bewerte und kommuniziere ich die Lernfortschritte eines DaZ-Schülers?“ „Welche Rituale helfen bei der Einfindung in die Gemeinschaft und bereiten dabei allen Kindern Freude?“
Zugleich ergeben sich rein aus Kapazitätsgründen auch Situationen, in denen die neu hinzugekommene Kindergruppe der Geflüchteten einfach einmal ruhig und eigenständig arbeiten können muss, damit Unterricht für die RegelschülerInnen überhaupt noch möglich ist.
3) Soziale und interkulturelle Probleme: Nebeneinander oder miteinander? Wie gelingt eigentlich Integration?
Der Bereich der intensiven Begegnung nicht nur mit Kindern, sondern auch mit Eltern aus anderen kulturellen Lebenskreisen birgt unbekannte oder für Sie bislang nur marginal relevante Problemfelder. Diese können jedoch für beide Seiten große Hindernisse für ein gelingendes Unterrichtsgeschehen darstellen.
Immer wieder erfahren Sie als LehrerInnen, dass Ihre Zugewandtheit und Nähe zu den Kindern, Ihre offene „westliche“ Körpersprache und Kleidung zu Problemen in der alltäglichen Kommunikation mit DaZ-SchülerInnen und ihren Eltern oder gar zu Ablehnung führen.
„Wie vermittle ich den Geflüchteten die Werte einer gleichberechtigten demokratischen Kultur?“, fragen sich Lehrende, die ihren Unterricht und ihre Lebensweise diesen Grundwerten verpflichtet sehen. Zugleich möchten viele von Ihnen auch die kulturellen Vorerfahrungen und Prägungen der geflüchteten Kinder in den Unterricht integrieren - als Wertschätzung und nicht zuletzt als interkulturellen Gewinn für alle SchülerInnen der Klasse. Doch wie viel Muttersprache gehört zum Beispiel in den deutschen Unterrichtsalltag und ist dem Deutschlernen (noch) förderlich?
Bei allen Beispielen gelingenden Zusammenwachsens durch die sensiblen Bemühungen beider Seiten berichteten Sie uns jedoch auch von solchen Problemen: „Die Eltern können meinem DaZ-Kind in schulischen Belangen nicht weiterhelfen, weil sie selber noch nie in einer Schule waren. So bleibt häufig auch die Lernmotivation aus oder vereinbarte Regeln werden nicht eingehalten.“ „Unsere Flüchtlingskinder aus unterschiedlichen Nationen tragen untereinander immer wieder verbal und körperlich Konflikte aus - wie kann ich hier schlichten?“
Letzteres berührt einen Bereich, in dem Sie trotz all Ihrer vorhandenen Lebens- und Erziehungserfahrung für gewöhnlich nicht ausgebildet sind: den Bereich der seelischen Erkrankungen und Traumata. „Wie arbeite ich stabilisierend mit von Krieg und Flucht traumatisierten Kindern (und ihren Eltern!)?“ „ Wie schütze ich mich und meine anderen SchülerInnen vor den teilweise schockierenden Erfahrungen, die verbal oder in Bildern an uns herangetragen werden?“ Diese Fragen bewegen Sie in Ihrer Fürsorgeverantwortung für die Kinder und letztlich auch für sich selbst.
Im Folgenden stellen wir unser neues DaZ-Konzept für den Bücherwurm vor, das inhaltlich und methodisch auf den gesammelten Erkenntnissen und Überlegungen in diesem Artikel fußt.
Den Anfang macht der Einstufungstest, der Ihnen helfen soll, die vorhandenen Lese- und Schreibfertigkeiten eines DaZ-Kindes einzuschätzen und so das geeignete Arbeitsheft auszuwählen.
Heike Günther